Der Economist hat vor drei Wochen einen Beitrag zur Verwendung des Edelgases Xenon im russischen Hochleistungssport veröffentlicht. Der Beitrag wurde in diversen Fach- und Ausdauermedien (Runner’s World, road.cc: „The Next Big Thing in legal doping?“) schnell zitiert, ging aber während der Sotschi-Show weitgehend unter. In meiner Timeline ist mir das bis heute auch durchgerutscht.
Im Beitrag heißt es u.a.:
Xenon works its magic by activating production of a protein called Hif-1 alpha. This acts as a transcription factor: a chemical switch that turns on production of a variety of other proteins, one of which is EPO. Artificially raising levels of EPO, by injecting synthetic versions of the hormone or by taking so-called Hif stabilisers (drugs that discourage the breakdown of Hif-1 alpha), is illegal under the rules of the World Anti-Doping Agency (WADA). Other methods of boosting the hormone, however, are permissible—and that fact has not gone unnoticed by the Russian sports authorities. Athletes are allowed to live or train at altitude, or sleep in a low-oxygen tent, in order to stimulate red-cell production. If xenon treatment is merely replicating low-oxygen environments by replacing oxygen with xenon, then its use to enhance athletic performance is permissible.
The use of xenon by athletes certainly has government blessing. A document produced in 2010 by the State Research Institute of the Ministry of Defence sets out guidelines for the administration of the gas to athletes. It advises using it before competitions to correct listlessness and sleep disruption, and afterwards to improve physical recovery. The recommended dose is a 50:50 mixture of xenon and oxygen, inhaled for a few minutes, ideally before going to bed. The gas’s action, the manual states, continues for 48-72 hours, so repeating every few days is a good idea. And for last-minute jitters, a quick hit an hour before the starting gun can help. (…)
And the gas appears to have been used in past Olympics. The website of Atom Medical Centre, a Russian medical-xenon producer, cites national honours the company received for its efforts in preparing athletes for the 2004 summer Olympics and the 2006 winter games.
Bei der Marke Medxenon geht es (im Sport) nicht nur um eine erhöhte Produktion körpereigenen EPOs, sondern auch um eine erhöhte Testosteron-Konzentration im Blut.
Nach Angaben des Moskauer Atom-Med Zentrums (АТОМ-МЕД ЦЕНТР) haben sich während der Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen 75 Prozent der russischen Medaillengewinner dem „Sauerstoff-Cocktail“ (кислородный коктейль) Medxenon unterzogen. Bei den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin waren es 70 Prozent aller Medaillengewinner:
2008 und 2010 wurden, glaube ich, auch in irgendeinem der vielen Unterlagen erwähnt. Die Vorbereitung auf London 2012 und Sotschi 2014 …
… wird in diesem Dokument aus dem Jahr 2010 aus dem Fundus des Atom-Med Zentrums abgesprochen. Das komplette Dokument, das die Xenon-Methode beschreibt und analysiert:
Zwei weitere Links zum Atom Med Zentrum:
- zusätzliche Dokumente zur Xenon-Behandlung im Sport
- Abriss der Tätigkeit dieser Einrichtung seit 2002 (auch seither im Sport)
Für Leute, die noch schlechter Russisch sprechen und lesen als ich, diese Hinweise zum obigen Dokument:
- Seiten 12-14: Wirkungsweise des кислородный коктейль (KK)
- Seiten 38/39: Daten zur erhöhten Testosteron-Produktion
- Seiten 41-43: Summary
- Seite 16: Die Sportarten (Stand 2010), in denen der Sauerstoff-Xenon-Cocktail eingesetzt wurde:
Winter:
- Biathlon (биатлон)
- Shorttrack (шорт-трек)
- Skilanglauf (Лыжные гонки)
- Eisschnelllauf (Конькобежный спорт)
Sommer:
- Leichtathletik
- Schwimmen
- Gewichtheben
- Radsport
- Ringen (beide Stilarten)
- Basketball
- Fußball
- Volleyball
- Rudern
- Kanu
Und noch zwei Links, die die Marke Medxenon ausführlich beschreiben. Contimed.ru und RSLNet.ru.
Ist das Doping?
Der WDR hat zwei Experten befragt, die in den Beiträgen am Sonntagnachmittag (in der ARD) und am Montagabend in Sport Inside zu Wort kamen.
Mario Thevis vom Kölner Labor verweist auf Ergebnisse von Tierversuchen und sagt:
Innerhalb eines Tages, innerhalb von 24 Stunden war die EPO-Produktion um den Faktor 1.6, auf 160 Prozent, gesteigert worden. Das ist eine eine deutliche Erhöhung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es im Menschen die gleiche Wirkung ausübt.“
WADA-Gründungspräsident Richard Pound erklärt:
Lassen Sie uns zweifelsfrei feststellen, dass es sich hierbei um Doping handelt und dass es in einem möglichen Verfahren unmöglich wird zu sagen, die Regeln seien nicht klar.“
Ich wäre mir da nicht so sicher, ob „mögliche Verfahren“ das tatsächlich ergeben.
Ich finde es übrigens mehr als erstaunlich, dass der Economist-Beitrag nicht eher Wellen geschlagen hat und leider in Sotschi kaum Beachtung fand. Eine Begründung dafür dürfte sein, dass die Redaktion es versäumt hat, die Geschichte via Social Media in der richtigen Zielgruppe zu streuen. Es reicht eben nicht mehr, nur eine Story zu drucken, man muss sie auch im passenden Umfeld bewerben.
Kaum zu glauben, da doch viele Leute meinen, was im Economist stehe, müsse automatisch weit verbreitet werden.
Breitere Beachtung aber fand die Geschichte erst durch die Veröffentlichungen in der ARD, wo auch die sportpolitische Komponente (WADA, Dopingfahnder) bearbeitet wird, die im Economist zu kurz kommt.
IOC-nahe Pressemenschen sagen, natürlich, die Methode sei mit dem WADA-Code (Verbotsliste, deutsche Übersetzung) kompatibel.
La méthode dite du Xénon n’est pas interdite par l’Agence mondiale antidopage (AMA).
— Lunzenfichter Alain (@ALunzenfichter) February 25, 2014
Ich widerspreche …
.@ALunzenfichter Russia’s #Xenon method increases production of EPO + testosterone in human body. such methods against WADA code. #doping
— Jens Weinreich (@jensweinreich) February 25, 2014
… wohl wissend/ahnend, dass es nichts bringen wird.
Das IOC und Vlad Putin werden es schon richten.
Wie schon gesagt, ich halte es für unwahrscheinlich, dass Xenon hier wirkt. Da geht es wohl – ohne die Dokumente nun lesen zu können – um die hohe Sauerstoffkonzentration. Dass man nun Xenon zusetzt, dürfte wegen dessen hoher Dichte die Verweilzeit stark erhöhen.
Ein Skandal der viral geht, aber nicht in dieser Sprache. ;-)
Also ums genauer zu formulieren: Klar wirkt Xenon, aber eher physikalisch.
Also, was mich mehr bewegt, ist die Frage: Wie konnte in einem Land, dass zentralistisch und undemokratisch sofort jede unerwünschte Kritik brutal unterbindet, die freiwillige Veröffentlichung der als dopingverdächtig kolportierten Verfahren passieren ?
Wenn die Russen alles unter Kontrolle haben, dann erst recht das, wenn es ein Dopingverstoß wäre. Der Xenon-Gebrauch ist allerdings nicht WADA gelistet, da kann Pound reden so viel er will und auch HS nach der letzten Schlappe sich wieder einmal viel Mühe gegeben haben. Und auch die Professoren können da nicht helfen.
Wir sollten die Russen nicht immer für blöd halten und auch einmal versuchen in unserer Logik zu bleiben, auch wenn es schwer fällt. Ansonsten hinterläßt das Ganze wieder einmal einen billigen Eindruck. Jetzt müsste ein schöner russischer Fluch folgen. Aber ich will lieber europäisch anständig bleiben.
Ist zwar OT, jedoch in diesem Zuammenhang (Biathlon) vielleicht nicht unwichtig: Warum erfährt die Öffentlichkeit nichs über die Hintergründe des Freitodes der Biathletin Julia Piper (19) aus Ruhpolding, bevor wilde Spekulationen ins Kraut schießen? Beziehunsprbleme scheint es nicht gegeben zu haben.
Ist ne schwierige Sache. Bei einer 19jährigen jungen Frau. Schlimm,schlimm. Ob die Öffentlichkeit da helfen kann ? Bei Enke wurde es öffentlicht, dann instrumentalisiert und dann still ruht der See.
Warum „die Öffentlichkeit“ nichts erfährt, weiß ich nicht. Es gibt ja keine zentrale Stelle dafür.
Das ist Sache der Staatsanwaltschaft. Da gehört es hin. Wenn Sie Informationen haben, können Sie sich gern an die Staatsanwaltschaft wenden. Natürlich auch an einen Journalisten Ihres Vertrauens.
Dass ich hier aus der Ferne nicht über den Freitod einer jungen Biathletin schreibe, über die ich nichts weiß, versteht sich von selbst. Ich bin auch auf Twitter darauf angesprochen worden und habe das getan, was sich in diesem Fall gehört: schweigen.
Bevor man mehr Suizidberichterstattung fordert, sollte man ruhig nochmal einen Text aus den Archiven des St. Niggemeier lesen: Über Enke und Werther
Hab’s gerade andernorts schon angemerkt: Möglicherweise gehen einige Leute gerade der Absatzförderungskampagne eines russischen Produzenten für medizinisches Xenon auf den Leim.
Dieses Video des russischen Propagandakanals ist höchst interessant (ab Minute 17): http://www.youtube.com/watch?v=l98ENa9tLws
Es ist ziemlich offensichtlich, warum Xenon u.a. mit von pseudowissenschaftlichen Leistungssteigerungsprodukten sattsam bekannten Argumenten nun Sportlern untergejubelt werden soll: für die medizinische Anwendung als Narkosegas ist es schlicht zu teuer.
Vielen Dank, Piti. Das stelle ich in einen neuen Beitrag.
Pingback: Russia’s propaganda TV: medical Xenon as performance-enhancing gas #Sochi2014 • sport and politics
Lt. Video soll Xenon mit einer Reinheit von 99,9999 % für kommerzielle Zwecke bislang nur von den USA, Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine hergestellt werden. Seine einzigartige medizinische Anwendbarkeit für alle erkrankten Organe und vor allem seine stressschützende und -lindernde Wirkung macht Xenon damit auch für Hochleistungssportler attraktiv. In kleinen Dosen vor und nach dem Wettkampf beruhigt es bzw. ermöglicht eine schnellere Erholung und Wiederherstellung der maximalen Leistungsfähigkeit. Und vor allem kann man härter und länger trainieren. Das alles muss die WADA und dem IOC schon lange bekannt gewesen sein. Also, sie sollen den Mund aufmachen und nicht versuchen, es auszusitzen. Das alles erinnert zu stark an die „Erfurter Blutbestrahlungsaffäre“. Wenn das IOC und seine WADA die Übersicht verlieren bzw. das Updating der Regularien nicht mehr zeitnah schaffen, dann sollen sie es einfach sagen. Und ihren Mitgiedern sollten sie auch mal das dämliche persönliche Gequatsche über Unausgegorenes untersagen. Ist ja unseriös, wie sich alte Männer mit hohen Ehrenpensionen immer wieder in solchen Situationen noch einmal profilieren wollen.
Aber bitte nicht schon wieder die Choose auf dem Rücken der Sportler austragen und den Sportkrieg anheizen. Es reicht so schon.
Warum liest man in diesem Blog gar nichts über Hoeneß/Adidas …?
Weil ich etwas anderes abschließen muss.
Wenn Du mir einen Rechercheauftrag verschaffst, gibt es danach gern auch Informationen zum Thema, das Du erwähnst.
Ich freue mich schon auf den „Nur hier im Blog: Die 70.000 Seiten Hoeness-Dokumente“-Blogpost.
Aus der WADA-Mitteilung nach dem Board-Meeting in Montreal:
Business as usual. Erst kommt das Mittel, nach angemessener Zeit fällt es auf, dann der mediale Noise about nothing und dann erst die evtl. Aufnahme in die Liste und nach vereinbarter Übergangsfrist das Verbot.
Zwischendrin irgendwann und irgendwo hatte es jedoch schon längst den Status einer seit jahrzehnten verbotenen Substanz erreicht. Noch glücklicher ist dann der Sportler – die diesbezüglich auch rechtlich ungeschützte Spezies – , der es wegen dem persönlichem Datenschutz schon längst personifiziert um die Ohren bekommen hat. Dieses „Prozedere“ ist so alt wie die WADA-Liste und doch immer wieder neu und spannend. :D