Am Tag danach präsentierte sich das IOC-Völkchen entspannt. Die wichtigste Arbeit auf der 119. Session des Internationalen Komitees war mit der Kür von Sotschi zur Winterolympiastadt 2014 erledigt. Und dies vor allem dank des tatkräftigen Einsatzes des IOC-Ehrenpräsidenten Juan Antonio Samaranch, worüber noch zu reden sein wird. Als die einen also noch die Wunden behandelten (Salzburg und Pyeongchang), die anderen den Kater nach der Siegerparty bekämpften, ging das IOC zur Tagesordnung über.
Zunächst wurde in einer Blockabstimmung eine mammutmäßig große Liste von Mitgliedern im Amt bestätigt. Gemäß den Regeländerungen auf der Krisensession im Dezember 1999 mussten sich nach acht Jahren 27 persönliche Mitglieder, darunter der Deutsche Walther Tröger, wiederwählen lassen. Tröger aber nur für zwei Jahre, weil er dann wegen der Altersbegrenzung mit Vollendung seines achten Lebensjahrzehnts ausscheiden muss. Auch Präsident Jacques Rogge stand auf der Liste, weshalb theoretisch die Möglichkeit bestanden hätte, ihn zwei Jahre vor Ende seiner achtjährigen Amtsperiode abzuwählen.
Rogge hatte darauf bestanden, alle 27 Mitglieder im Block zu bestätigen. Das verwunderte und erinnerte an alte Zeiten. Eine Einzelabstimmung wäre angebracht gewesen. Rogge konnte die Blockabstimmung auch nicht überzeugend begründen. Er erklärte nur umständlich, dass die Session sich auf sein Exekutivkomitee und die Nominierungskommission verlassen könne, denn die darin versammelten Personen seien am besten in der Lage, die Arbeit der 27 Kollegen einzuschätzen. „Wer aktiv mitarbeitet, soll auch dabeibleiben“, sagte Rogge. Damit war die Entscheidung vorgegeben.
Nach kurzer Diskussion, in der zehn Olympier ihren Präsidenten bestätigten, wurde die Sache durchgewunken: mit 92:5 Stimmen, bei vier Enthaltungen. Anschließend ließ sich Rogge seine Idee der Olympischen Jugendspiele absegnen, und zwar einstimmig. Immerhin dauerte es zwei Stunden, bis das Thema abgehakt war.
47 Mitglieder meldeten sich zu Wort – fast alle dankten Rogge überschwänglich. Der Taiwanese Ching-Kuo Wu, Präsident des Box-Weltverbandes, verstieg sich gar zu der Behauptung, diesen 4. Juli zum drittwichtigsten Tag in der Geschichte des IOC zu erklären, gleich nach der IOC-Gründung im Jahre 1894 und den ersten Spielen der Neuzeit im Jahre 1896. Das Repertoire der Ovationen reichte von „brillant“, „historisch“ bis „einmalig“.
Nur der Kanadier Richard Pound störte die Weihestunde mit seinen energischen Einwänden. Die Einführung der Jugendspiele sei verfrüht, sagte er, es sei besser, zunächst auf einer internationalen Konferenz das Thema tiefgründig auszuloten. Pound legte zahlreiche Schwachpunkte offen: „Ich frage mich, ob eine Struktur aus dem 19. Jahrhundert der richtige Ansatz ist, die Probleme zu lösen, die hier beschrieben wurden.“
Bewegungsarmut, Fettleibigkeit, allgemeines Desinteresse an körperlicher Betätigung, Dominanz der elektronischen Medien im Freizeitverhalten, sinkendes Interesse am olympischen Sport, alarmierende gesundheitliche Probleme – all das hatte Rogge aufgezählt. „Kinder und Jugendliche sitzen nur noch vor dem Fernseher oder machen Videospiele. Multimedia begeistert oft mehr als der Sport.“ Ob daran Olympische Jugendspiele etwas ändern? Zumal, wie Pound bemerkte, man mit Jugendspielen, die auf sportliche Leistungen fixiert sind, ohnehin „maximal zwei Prozent der Kinder“ erreiche: „Wir reden also über eine Minderheit, die ohnehin Sport treibt.“
Auf die latente Dopinggefahr, hatte Pound, Chef der Weltantidopingagentur, schon zuvor in Interviews hingewiesen. Alessandro Donati, der verdiente italienische Dopingaufklärer, hatte kürzlich im Deutschen Bundestag sogar dafür plädiert, den Sportverbänden die Verantwortung für Kinder und Jugendliche „wegzunehmen“: Man müsse dagegen ankämpfen, sagte Donati, dass der Nachwuchs als Menschenmaterial für die Medaillenproduktion missbraucht werde. Derartige Grundsatzüberlegungen spielten auf der IOC-Session kaum eine Rolle.
Als Pound den Plan Rogges zerpflückte und sagte, „wir sollten uns doch erstmal über die Dimension des Ganzen klar werden, bevor wir etwas verabschieden“, fuhr ihm einer in die Parade, der noch nie durch eine widersprüchliche Meinung zum IOC-Präsidenten aufgefallen ist: der Israeli Alex Gilady. „Eigentlich wollte ich gar nichts sagen“, grummelte Gilady, langjähriger Manager und Lobbyist des US-Fernsehgiganten NBC. „Aber nach diesen Aussagen von Dick Pound kann ich nicht still bleiben.“ Gilady führte ein paar Allgemeinplätze an und meinte schließlich, auf Pound gemünzt, es sei „immer leicht, mit dem Mikroskop nach Problemen zu suchen“. Er dagegen bevorzuge eine robustere Gangart: „Wir versuchen einfach das Projekt Jugendspiele und korrigieren uns, wenn überhaupt nötig.“
Nachdem der Russe Alexander Popow noch die Unterstützung seines Staatspräsidenten Putin vermeldet hatte, und als 47. Redner nach Rogge der greise IOC-Ehrenpräsident Samaranch das Projekt absegnete, ging es in die Mittagspause. In den nächsten Wochen soll eine Adhoc-Kommission unter Leitung des Hessen Klaus Schormann die Ideen bündeln. Im August will das IOC bereits Bewerbungen für die Austragung der Jugend-Sommerspiele 2010 entgegennehmen. Im Februar 2008 soll das IOC per Briefwahl den Ausrichter bestimmen.
Am Ende bleiben mehr Fragen als Antworten. Das IOC hat ein neues Großprojekt beschlossen, ohne die Problematik wirklich zu erfassen. Zumindest gingen die Sportkameraden nicht auf den Vorschlag des Kroaten Antun Vrdoljak ein. Der fünffache Vater und zehnfache Großvater hatte, ohne erkennbaren Witz, dafür plädiert, den IOC-Nachwuchs automatisch für diese Jugendspiele zu qualifizieren.
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