Sie bezeichnen sich selbst als Profiteure. Sie empfinden Genugtuung, das schon; aber sie nehmen den unverhofften Profit durchaus demütig an. Weil das öffentlich-rechtliche Sportfernsehen aus der Etappenberichterstattung der Tour de France ausgestiegen ist, wurde am Wochenende eine Stunde mehr Leichtathletik gezeigt: die Deutschen Meisterschaften in Erfurt. Und so raunte der Berliner Diskuswerfer Robert Harting, der nach der Ära Riedel seinen ersten nationalen Titel gewann, dem ehemaligen ZDF-Sportchef Wolf-Dieter Poschmann zu: „Ich finde das gut, dass ihr die Tour-Übertragungen abgebrochen habt.“ Andere Athleten äußerten sich ähnlich.
„Ein bisschen mehr Sendezeit ist ein Geschenk“, sagt Jürgen Mallow, der Chefbundestrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). „Hoffentlich wird es kein Bumerang.“ DLV-Präsident Clemens Prokop findet den überraschenden TV-Vorteil für die Leichtathletik „sachlich nur billig und gerecht. Es ist eine Belohnung, dass wir vom Tour-Ausstieg profitieren, weil nur wenige Verbände so konsequent gegen Doping vorgehen wie der DLV.“
Zwar ließen sich auch allerlei Argumente vorbringen, die Prokops Ansicht torpedieren, keine Frage, und darüber ist auch schon umfassend berichtet worden. Andererseits unterscheidet sich die Lage bei den Leichtathleten doch beträchtlich von der Situation in der Branche des bezahlten Radfahrens. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. „Ich glaube nicht, dass wir organisierte Heuchelei betreiben“, sagt Eike Emrich, DLV-Vizepräsident für Leistungssport. „Wir haben das Dopingproblem schon vor langer, langer Zeit thematisiert, aufgegriffen und bekämpft. Wir haben als erste systematische Anwendung kluger Kontrollen gefordert. Und wir haben auch den Athleten klar gemacht, dass es keine Verhaltensalternative gibt.“
Emrich bezeichnet Leichtathletik-Meisterschaften als „Mischung aus Familienfeier und Sportevent“. In Erfurt hätte sich eine „Wertegemeinschaft versammelt“, behauptet er. Dem Radsport dagegen schreibt er „frühkapitalistische Arbeitsverhältnisse“ und „reines Berufsathletentum“ zu.
Wer Ehrenamtlern wie Emrich lauscht und zugleich noch die vielen hilflos-hölzern-ahnungslosen Fernseh-Interviews des Radsport-Funktionärs Harald Pfab aus der vergangenen Woche nachklingen lässt, der wähnt sich in einer anderen Welt. Ein Mann wie Emrich jagt von Idee zu Idee, von einer intelligenten Bemerkung zur nächsten. Sein Redefluss ist nicht zu stoppen. Emrich redet geschliffen über „ganzheitliches Training“ und „pädagogische Ansätze“, er zitiert den Schriftsteller Albert Camus und den Nobelpreisträger James Buchanan, einen Ökonomen. Hauptberuflich lehrt und forscht Sozialwissenschaftler Emrich an der Universität Saarbrücken. Er ist, wenn man so will, derzeit der Star unter den praktizierenden Sportphilosophen, kombiniert Sportsachverstand mit brillanter Analysefähigkeit und ressortübergreifendem Denken.
Das tut nicht nur der Leichtathletik gut, sondern dem gesamten Sport. Denn den bedrohlichen Mangel an Geist hat vor einem Vierteljahrhundert schon Willi Daume konstatiert. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Frage ist nur, ob im Sportbetrieb jenseits des Leichtathletik-Verbandes, etwa im deutschen Dachverband DOSB, kluge Stimmen wie die von Emrich gehört werden.
Als DLV-Präsident Prokop kürzlich die bemerkenswerte Initiative startete, die Spitzensportverbände sollten pauschal fünf Prozent ihrer Förderung aus Bundesmitteln in die Nationale Antidopingagentur (Nada) investieren, erlebte er ein Fiasko. Kein einziger Verband unterstützte den Vorschlag. DOSB-Präsident Thomas Bach führte die Allianz der Prokop-Kritiker an – ohne sachliche Argumente, nur mit dem Hinweis, der Vorstoß sei nicht kollektiv abgestimmt. So viel zur Meinungsfreiheit und zu Demokratiedefiziten im DOSB-Reich.
„Es gibt kein Bewusstsein, dass wir ein gemeinsames Problem haben. Der Sport hat keine Verantwortung übernommen. Wir haben eine Chance verpasst“, zürnte Prokop Anfang Juni in Hamburg, als sein mutiger Vorstoß abgeblockt wurde. Weil sich die Lage an der Dopingfront in den vergangenen Wochen weiter bedrohlich verschlechtert hat, überlegt Prokop derzeit, seine Anregung zu erneuern. „Das hat uns keine Sympathien eingetragen“, resümiert Emrich rückblickend. Und schon spricht wieder der Analytiker mit heißem Herzen. „Wir befinden uns an einer Nahtstelle“, sagt Emrich. „Wollen wir Zirkus oder Sport? Wenn wir Sport wollen, dann ist das zwingend gekoppelt an Moral. Mit welcher Berechtigung wollen wir unsere Kinder für Leistungssport gewinnen? Mit welcher Berechtigung nehmen wir erzieherische Werte in Anspruch?“
Derlei Grundfragen werden in weiten Teilen des Sportbetriebs ausgeklammert. Nicht so im Brainpool des DLV. „Aber mit unserem netten, sympathischen, unkommerziellen Denken werden wir uns wahrscheinlich nicht durchsetzen“, sagt Jürgen Mallow. Nett, sympathisch, unkommerziell, das ist nicht überheblich, sondern selbstironisch gemeint. Haltung als Wert Emrich und Mallow sind vor knapp drei Jahren angetreten, den Verband von Grund auf zu reformieren. Es ist ein langer Kampf, ein zähes Ringen, eine Schlacht der Ideen. Entscheidend sind nicht die kurzfristigen sportlichen Erfolge, sondern Nachhaltigkeit.
In einigen Jahren wird man wirklich sehen, ob die Saat aufgeht. Oder ob, wie es Mallow formuliert, „diejenigen, die den Preis von allem und den Wert von nichts kennen“, die Oberhand behalten. „Ich bin kein rückwärtsgewandter Utopist oder Romantiker“, sagt Emrich. „Ich kämpfe, solange ich glaube, dass es Sinn macht. Wenn ich merke, dass ich nichts mehr bewegen kann, könnte meine Entscheidung, einen Schlussstrich zu ziehen, in weniger als einer Sekunde fallen.“
Noch ist es nicht so weit. Noch rüttelt Emrich die Branche stakkatoartig auf mit Ideen und Haltungen. Ja, auch mit Haltungen, das ist nichts Tadelnswertes in einer Zeit der kollektiven Rückgratlosigkeit. Es ist eine Sisyphos-Arbeit, die Emrich & Co. betreiben. Aber wo ist das Problem?
„Albert Camus hat von Sisyphos behauptet, er sei ein relativ glücklicher Mensch gewesen“, sagt Emrich und grinst. „Denn er habe, während er den Stein den Berg hinauf wuchtete, ja auch viel Zeit zum Nachdenken gehabt.“ Nachdenken, das ist es. Ein Wert an sich. Selten in der Welt des Sports.