Das weltweite Netzwerk des Fifa-Präsidenten
© Berliner Zeitung, 22. Mai 2004
ZÜRICH. Noch liegt die Nacht über der Stadt. In einem Büro auf dem Sonnenberg werkelt der Hausherr lange vor dem offiziellen Dienstbeginn. Joseph Blatter, ein notorischer Frühaufsteher, sitzt schon am Schreibtisch, sichtet Akten und E-Mails. Wenn der 69 Jahre alte Schweizer aufschaut, kann er in der Glasvitrine an der gegenüber liegenden Wand eine Kopie jenes Goldpokals sehen, nach dem sich Millionen von Fußballern sehnen und den er alle vier Jahre nach einem WM-Finale an den Kapitän des Weltmeisters übergibt. Es ist das einzige Schmuckstück in dem schlichten Arbeitszimmer mit der gut zehn Meter langen dunkelbraunen Schrankwand. Blatter und dieser Goldpokal. Mehr braucht es nicht, um zu verstehen, worum es geht.
Juan Antonio Samaranch, der langjährige Gebieter über die olympischen Ringe, hat einmal gesagt, Olympia sei wichtiger als die katholische Religion. Blatter legt noch einen drauf. „Der Fußball als das populärste Spiel auf Erden“, formuliert er. „Fußball ist mehr als eine einzelne Religion. Fußball ist für alle Menschen, für alle Völker, für alle Rassen. Fußball ist für den Mann und für die Frau. Im Fußball gibt es keinen Unterschied zwischen Christen, zwischen Moslems, Juden, mmh, was gibt es noch? Also nur zu sagen, mehr als die katholische Kirche, das wäre für mich zu wenig. Fußball ist mehr als das.“ Und er, Joseph Blatter, ist der Chef von mehreren Milliarden Menschen, die dieser Super-Religion verfallen sind. Er ist der Präsident der Fédération Internationale de Football Association, kurz Fifa.
DOHA. Mindestens 200 Tage im Jahr ist Blatter unterwegs. Diesmal hat es ihn an den Persischen Golf verschlagen, nach Katar. Im Ritz-Carlton Doha bewohnt er eine riesige Suite, die allerdings nicht zu den besten des Hauses gehört. Denn die teuersten Appartements liegen im 24. Stock, dort, wo zur selben Zeit auch Stefan Effenberg residiert. Blatter ist wie immer früh auf. Müsli und Tee gibt es zum Frühstück, etwas Obst. Dann steht er auf, geht ans Fenster, fasst mit beiden Händen den Sims, lehnt sich nach vorn, drückt den Rücken durch. „Ich habe vorhin schon zehn Minuten Bodengymnastik gemacht für meinen Rücken“, sagt er. „Wenn ich das nicht mache, bin ich den ganzen Tag gekrümmt. Ich habe ein Bandscheibenleiden, wie wahrscheinlich die meisten Leute in meinem Alter, die früher viel Sport gemacht haben und dann bei der Arbeit viel zu viel sitzen.“ Dann schweigt er, blickt aufs Meer und atmet einige Male tief durch.
Ein Blick noch in den Spiegel, ein Blick in die kleine Arbeitsmappe, auf seinen Glücksbringer, eine Spielkarte. Der Herz König und ein Foto seiner Enkelin Celina sind immer dabei. „Auf geht’s“, ruft Blatter und macht sich auf den Weg. Im Büro schaut er nur kurz vorbei. Helen Petermann und Christine Salzmann, seine langjährigen Mitarbeiterinnen, haben alles im Griff. Jerome Champagne, stellvertretender Fifa-Generalsekretär, macht ihn knapp mit den neuesten Entwicklungen vertraut. Unten in der Lobby des Ritz wartet bereits Mohamed Bin Hammam, „mein Bruder Mohamed“, wie Blatter zu sagen pflegt. Bin Hammam, Gastgeber dieses Fifa-Kongresses in Doha, stammt aus Katar, gehört dem Fifa-Exekutivkomitee an und ist Präsident der asiatischen Konföderation. Er ist einer der einflussreichsten und mächtigsten Männer in diesem Geschäft.
Im Auto reden Blatter und Bin Hammam über den bevorstehenden Kongress. Es ist die erste Vollversammlung der 204 Nationalverbände zählenden Fifa seit der turbulenten Wahl im Mai 2002 in Seoul. Damals hatte Blatter schweren Widerstand zu überwinden. Einige Exekutivmitglieder wollten ihn vor Gericht bringen. Am Ende aber hatte er gegen seinen Herausforderer Issa Hayatou aus Kamerun klar gesiegt. In Doha strebt Blatter nun eine Änderung der Statuten an. Fifa-Präsidenten sollen nicht mehr kurz vor Beginn einer Weltmeisterschaft gewählt werden. Statt 2006 in Deutschland soll die nächste Wahl erst 2007 stattfinden. Blatter will sich so ein weiteres Jahr im Amt genehmigen. „Ich habe mit den Brüdern im Norden gesprochen“, sagt er und meint damit den europäischen Verband Uefa. „Sie sind auch dafür. Wir dürfen die Weltmeisterschaften nicht mehr mit unseren Wahlkämpfen belasten.“ Bin Hammam lauscht und nickt. Sein asiatischer Verband hat Blatters Plan unterstützt: „Die Fußball-Familie braucht dich, sie braucht einen so überragenden Präsidenten.“ Ergriffen tätschelt Blatter den Oberschenkel des Gefährten. „Ich muss wirklich sagen, dass mir diese Unterstützung Kraft gibt. Als ich hierher kam, war ich ein bisschen müde, aber jetzt bin ich voller Energie. Das muss am Land liegen oder an deiner Präsenz, keine Ahnung, aber es geht mir gut.“ Bin Hammam antwortet: „Danke, Präsident, ich freue mich, das zu hören. Bestimmt hilft auch das Klima und die Liebe der Menschen.“ Blatter: „Ja, so muss es wohl sein.“
Die Autokolonne nähert sich derweil einem jener prunkvollen Stadien, die in der Steinwüste Katars aus dem Boden wachsen. Mit seinen Petro-Dollars erkauft sich das kleine Land den Status einer sportlichen Supermacht. In wenigen Jahren wurde ein Dutzend glitzernde Arenen errichtet, Katar bürgert in vielen Sportarten Athleten anderer Länder ein und bereitet sich auf die Asienspiele 2006 vor. Bin Hammam besitzt selbst einen Profiverein, für den Mario Basler spielt und Fernando Hierro, ehemals Kapitän von Real Madrid. An diesem Tag aber kicken keine Stars, auf dem Rasen spielen Kinder aus vorderasiatischen Ländern, die an einem Hilfsprojekt der Vereinten Nationen teilnehmen. Blatter lässt sich gleich einen Ball zuspielen, schon hat er die Jungs auf seiner Seite. Er spricht zu den Kids wie ein Prediger, mit Handbewegungen untermalt er seine Botschaft. „Fußball ist die Schule des Lebens. Ja, Fußball ist auch ein Kampfspiel, aber mit einem guten Geist. In der Gruppe lernt ihr zu gewinnen und zu verlieren. Und deshalb finde ich dieses Projekt der Vereinten Nationen so wunderbar. Das geht mir unter die Haut.“ Er zeigt seine Unterarme. „Hier seht ihr meine Emotion. Gänsehaut.“
Abends treffen sich die 24 Mitglieder des Fifa-Exekutivkomitees, die meisten in Begleitung ihrer Ehefrauen, in der Residenz Bin Hammams. Margit Mayer-Vorfelder bittet ihren Gatten Gerhard um ein paar Fotos fürs Familienalbum. Der Gastgeber mag das auch, wie seine voll gestopften Vitrinen beweisen: Bin Hammam mit Fußballstars, mit Prinzen und Sultan, mit Chirac, Arafat und Ghaddafi. Ein Freundschaftsbild mit Blatter ist auch dabei. Der ist schwer beeindruckt von der Immobilie des Gastgebers. „Haben Sie das gesehen? Allein das Gästehaus dürfte zehn Mal größer als meine Wohnung in Zürich sein.“ Bin Hammam lächelt und sagt, er wisse gar nicht, wie groß die Wohnung ist. „5 000 Quadratmeter können es schon sein.“
ZÜRICH. Blatter kann keine 5 000 Quadratmeter bieten. In Zürich wäre das nicht einmal mit der Apanage eines Fifa-Präsidenten zu bezahlen, die offiziell rund eine Million Schweizer Franken beträgt. Blatter wohnt in einem vierstöckigen Apartmenthaus mit Blick auf den See. Er besitzt noch ein Chalet in seiner Heimat im Kanton Wallis, in das er sich gern zum Jahreswechsel zurückzieht. Man merkt seiner Wohnung an, dass er nur ein paar Monate im Jahr hier verbringt und dann auch noch 16 Stunden täglich auf Achse ist. Blatter serviert Coke. Vor ein paar Tagen hat die Boulevardzeitung „Blick“ die Geschichte von seiner neuerlichen Trennung ausgewalzt. Erst im Dezember 2002 hatte Blatter seine dritte Frau Graziella geheiratet, eine ehemalige Delfin-Lehrerin und Freundin seiner Tochter Corinne. Damals hatte er sich in einem mehrseitigen Interview im Tagesanzeiger noch mit der katholischen Kirche angelegt, die ihm eine zweite Eheschließung in einem Gotteshaus verweigerte. „Sepp gegen den Papst“, wurde das Thema seinerzeit in allen Schweizer Medien durchdekliniert. Doch inzwischen ist Blatter, der notorische Dampfplauderer, wieder etwas ruhiger geworden. Die Trennung geht ihm unter die Haut.
„Wahrscheinlich bin ich auf dem emotionalen Gebiet nicht der Kommunikative“, sagt er. „Wenn ich so viel in meinen Partnerschaften geredet hätte, wie ich in meinem Beruf rede, dann wäre das nicht passiert. Das ist es, was Graziella mir gesagt hat: Du konntest dich nicht öffnen, du bist immer verschlossen geblieben. Und wenn du dich nicht öffnen kannst, dann kann ich mich dir auch nicht offenbaren. Und so sind wir dann auseinander gegangen.“ Kann er sich im öffentlichen Leben öffnen? „Ich glaube, im Fußball öffne ich mich total. Ab und zu vielleicht zu viel, zu schnell und zu oft, wenn ich alles, was ich empfinde, gleich kommunizieren muss. Ich bin nun mal kein bedächtiger, sehr langsam überlegender Mann. Ich bin das ganze Gegenteil, weil ich das mache, was ich liebe. Ich sage immer, in diesem Jahr wird meine Verliebte hundert Jahre alt. Ich war schon immer in die Fifa verliebt. Deshalb ergeht es mir wohl so in meiner Partnerschaft.“
DOHA. Die Fifa belohnt den Liebhaber mit Beweisen ihrer Zuneigung. Blatter freut sich über die Delegierten, die er als „Fifa-Familie“ bezeichnet. Der Kongress genehmigt ihm einstimmig ein Jahr länger im Amt, die nächsten Wahlen finden erst 2007 statt. Blatter wäre dann 72 Jahre alt. Bin Hammam sagt: „Die Fußballwelt betrachtet ihn als ein Genie. Er hat alle Krisen überstanden, alle Kämpfe gewonnen. Niemand hat eine Chance gegen ihn. Wenn er wieder antreten will, dann wird er noch einmal für vier Jahre gewählt. Aber ich würde niemandem raten, es gegen ihn zu versuchen.“ Zwei Funktionäre haben es schon einmal versucht und sind gescheitert: 1998 verlor der Schwede Lennart Johansson unter mysteriösen Umständen die Fifa-Präsidentenkür. Im Jahr 2002 unterlag Issa Hayatou aus Kamerun. Johansson und Hayatou galten seither als Blatters Erzfeinde. Doch die Gegner von einst sind inzwischen sehr still geworden. Und Blatter wäre nicht Blatter, wenn er den Friedenspakt mit Johansson und Hayatou nicht medial inszenieren würde.
ZÜRICH. Zum Apero, dem Neujahrsempfang im Fifa-Hauptquartier, ist auch Johansson geladen. Nach einem Klinik-Aufenthalt ist es sein erster öffentlicher Auftritt seit acht Wochen. Blatter öffnet Johansson und dessen Frau Lola die Autotür. Handkuss für Lola, Umarmung für Lennart. „Mein lieber Freund, ich fühle mich geehrt.“ Johansson spricht zur Festgesellschaft: „Wer nicht mit Niederlagen umgehen kann, ist kein guter Fußballer. Ich bekenne hier also meine enge Freundschaft zum Präsidenten. Wir mögen unterschiedliche Positionen haben, aber wir arbeiten für dieselbe Sache. Das ist schwierig genug, da sollten wir uns nicht noch streiten.“ Blatter reagiert: „Das waren nicht nur schöne Worte, das waren tiefe Worte, ich danke dir, lieber Lennart. Ich nehme nicht nur die Worte auf, auch deine Freundschaft. Und zusammen werden wir die Probleme meistern.“ Kurz darauf schreiben Nachrichtenagenturen in aller Welt, Blatter und Johansson seien wieder versöhnt, es herrsche Ruhe im Fußball-Weltverband, Frieden und Einigkeit.
TUNIS. Es ist eng in der tunesischen Hauptstadt. Doch Joseph Blatter muss sich nicht durch den Stau quälen. Für ihn werden die Zufahrtsstraßen geräumt. Er sitzt im 500er Mercedes und referiert: „Fußball spielt in den meisten Ländern der Erde eine bedeutende Rolle. Wenn der Fifa-Präsident unterwegs ist, wird er deshalb wie ein Staatsoberhaupt behandelt. Das beweist, welche Bedeutung unser Sport hat, welche Aufmerksamkeit unserem Verband und seinem Präsidenten entgegen gebracht wird.“ Blatter ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er kann es verschmerzen, dass Hayatou, sein ehemaliger Herausforderer, wieder zum Präsidenten des afrikanischen Verbandes gewählt wird.
Heimlich hatten Mitarbeiter aus Blatters engstem Umfeld versucht, Hayatou zu stürzen. Blatter dementiert das gar nicht. „Ich bin ehrlich, und man sollte solche Sachen leider nicht sagen, aber: dem habe ich einen Riegel vorgeschoben.“ Er ist in Gönnerlaune. „Die großen Kämpfe sind vorbei“, sagt er. „Mit Lennart Johansson und Issa Hayatou habe ich mich versöhnt. Das ist nicht nur gut für den Fußball, sondern auch für das Wohl eines jeden Einzelnen. Es ist doch nicht angenehm, wenn man ständig einander angreift, der eine schlägt auf diesen, der andere auf jenen ein.“ Hayatou sagt müde: „Wir sind Freunde.“
Seit diesem Tag aber macht ihm Freund Blatter ziemlichen Ärger. Die Fifa geht gegen Kameruns Nationalmannschaft vor, weil die Spieler beim Afrika-Cup statt in einem Trikot und einer Hose mit einem modernen Einteiler angetreten sind. Kamerun wird mit einem Abzug von sechs Punkten für die WM-Qualifikation bestraft. Eine drastische Sanktion, die einer Disqualifikation für das Turnier 2006 in Deutschland gleichkommt. Nicht wenige Beobachter sehen darin doch eine Rache Blatters an Hayatou, dem er das Aufbegehren vor zwei Jahren nicht verziehen hat. Blatter weist das weit von sich.
HELSINKI. Jack Warner sitzt in einem Nobelhotel der finnischen Hauptstadt. Als Fifa-Organisationschef leitet er die Junioren-Weltmeisterschaft der 17-Jährigen. Warner kommt aus Trinidad, das nicht gerade eine Fußball-Großmacht ist. Dennoch zählt er zu Blatters wichtigsten Verbündeten. Innerhalb weniger Jahre hat er es auf wundersame Weise von einem einfachen Geschichtslehrer zu einem Multimillionär gebracht. Warner besetzt wichtige Positionen, wenn es um die Verteilung der Fifa-Reichtümer geht. Die Fifa zahlt jedem der 204 nationalen Verbände 250 000 Dollar pro Jahr. Viele kleine Föderationen bestreiten davon ihren Jahreshaushalt. Außer diesem Finanzprogramm vergibt die Fifa auch Entwicklungsprojekte in ihrem so genannten Goal-Programm. Chef des Goal Komitees ist Bin Hammam, der zweite wichtige Helfer des Präsidenten. Diese Finanzspritzen werden gern als verkapptes Stimmenbeschaffungsprogramm angesehen. Jack Warner, der Chef der karibischen und nordamerikanischen Konföderation (Concacaf), plaudert ganz offen: „Ich sage Herrn Blatter immer, dass er seine Wahlkämpfe gar nicht bei uns machen muss. Wir haben 35 Nationalverbände in der Concacaf. Wann immer er diese 35 Stimmen braucht, bekommt er sie. Und ich helfe ihm auch auf anderen Kontinenten. Die zehn Stimmen aus Südamerika zum Beispiel, die bekommt er auch.“
ANTIGUA. Sonnabends um zehn läuft auf der Karibikinsel die Show von Ian Magic Hughes. „Sports Saturday“ heißt die Diskussionsrunde auf 107,5 FM Crusader Radio. Hughes ist ein kleiner Star auf Antigua. Die Zuhörer schätzen ihn, weil er Dinge benennt, über die sonst niemand spricht. Das hat ihn nach Interventionen der Mächtigen schon zwei Jobs bei einem anderen Sender und einer Zeitung gekostet. Doch Hughes macht weiter. Was ihm gar nicht gefällt, ist der Umstand, wie in Antigua Jahr für Jahr auf rätselhafte Weise die Entwicklungshilfegelder der Fifa versanden. Seine Enthüllungen haben Paul Chet Greene, den Generalsekretär des Verbandes, in große Nöte gebracht. Greene ist einer der Kumpel von Jack Warner, dem Fußballchef Nordamerikas und der Karibik, und wurde gerade wieder in eine Fifa-Kommission berufen. Die beiden winzigen Inseln Antigua und Barbuda bilden zusammen einen jener 35 nationalen Fußballverbände, von denen Warner sagt, sie würden immer so abstimmen, wie er es will. Auf Fifa-Kongressen haben Antigua und Barbuda ebenso eine Stimme wie die Giganten Brasilien, Italien, Deutschland oder Frankreich. „Das mag euch in Europa nicht so klar sein“, sagt der Radiomann Hughes. „Wir gewinnen zwar nicht viele Spiele und schaffen es nicht zu einer WM, aber wir haben Macht. Auf den Kongressen entscheiden kleine Nationen. Sie bestimmen, wer Fifa-Präsident wird. Und wenn Leute wie Jack Warner glauben, sie könnten hier machen, was sie wollen, dann ist das ein großes Problem.“
Auch Warners Statthalter Greene macht, was er will. Da trifft nur ein Teil der Fifa-Gelder auf den Verbandskonten ein, dafür aber auf Privatkonten von Funktionären. Da stockt das Goal-Projekt in der Hauptstadt St. Johns, eine halbe Million Dollar wurde verbaut, ohne ein Resultat zu sehen. Da erhält ein Nationaltrainer, den man aus Brasilien einfliegt, einen Vertrag, in dem er am Transfer von Spielern profitiert. Da landen hunderte WM-Tickets, die Antigua von der Fifa für die Turniere 1998 in Frankreich und 2002 in Japan/Südkorea erhielt, auf dem Schwarzmarkt. Es gibt eigentlich nichts, woraus nicht versucht wird, Profit zu ziehen. Und im Mittelpunkt aller Ermittlungen steht Warners Kompagnon Greene. Der Reporter Ian Hughes hat mit seinen Freunden viele Monate recherchiert und stapelweise Beweise über finanzielle Machenschaften zusammengetragen – inklusive einer Reihe von WM-Tickets, die Greene auf dem Markt nicht absetzen konnte.
„Es ist eine Schande“, sagt Hughes. „Nichts ist übrig geblieben für die jungen Fußballer hier. Wir haben nicht einmal ein gutes Stadion. Aber das schlimmste ist, wie die Fifa auf diese Vorfälle reagiert hat.“ Als sich im Dezember 2002 eine Opposition bildete und im Fußballverband die Macht übernehmen wollte, suspendierte die Fifa die neue Führung. Der Verband wurde beinahe ein Jahr gesperrt. Antigua durfte nicht an internationalen Meisterschaften und der Olympia-Qualifikation teilnehmen. „Die Fifa hat sich voll auf die Seite von Chet Greene und Jack Warner gestellt“, sagt Hughes. „Jack Warner hat hier klar zum Ausdruck gebracht: Wenn ihr nicht auf mich hören wollt, werde ich euch bestrafen.“ Später wurden die Bücher des Verbandes geprüft, mit einem niederschmetternden Resultat: Für einige Jahre liegen kaum Unterlagen über die Verwendung der Gelder vor. Dennoch agierte Greene praktisch weiter als Generalsekretär und mehr oder weniger einziger Ansprechpartner der Fifa und der Concacaf. Auch auf dem Kongress in Doha war er zugegen.
Erst nach der Gründung eines Normalisierungskomitees, dem auch die Opposition angehört, wird der Fifa-Bann von Antigua genommen. Anfang Februar 2004 darf die Nationalmannschaft endlich wieder spielen. 1:0 bezwingt man den Nachbarn aus St. Kitts & Nevis. Diesmal nicht mit einem für viel Geld eingekauften Trainer aus Brasilien, sondern mit dem einheimischen Rastafari Debu Williams an der Seitenlinie. Williams bringt die Hoffnung vieler zum Ausdruck, als er sagt: „Ich hoffe, dass das Leiden endlich ein Ende hat und dass künftig das Geld von der Fifa dort ankommt, wo es hingehört.“
TUNIS. Bin Hammam und Blatter kennen natürlich die unangenehmen Geschichten aus Antigua. Sie winden sich, darüber zu reden. „Je mehr Geld im Spiel ist, desto mehr Begehrlichkeiten werden geweckt. Ja, es gibt in einigen Ländern Fälle von Korruption“, sagt Bin Hammam ganz allgemein. Geht es konkreter? Was passiert mit Antigua? Er lächelt. „Darüber kann ich nichts sagen.“ Blatter behauptet, das Problem Antigua sei längst gelöst. „Unsere Leute waren da unten und haben sich alles angeschaut. Es gibt ein Übergangskomitee. Ich sehe da kein Problem.“ Es sei Unsinn, das Finanz-Hilfsprogramm und das Goal-Projekt mit Stimmenkauf in Verbindung zu bringen. „Die Idee vom Goal-Programm hatte ich doch schon, bevor ich Präsident wurde.“ Eben. Jack Warner gibt den Medien die Schuld: „Die versuchen doch immer, mir Böses nachzusagen.“
PARIS. Die Fifa feiert ihren 100. Geburtstag im Carrousel du Louvre. Blatter, der in der vergangenen Woche Nelson Mandela und Südafrika mit der Austragung der Weltmeisterschaft 2010 in einen Freudentaumel versetzt hatte, wird Ritter der französischen Ehrenlegion. Bin Hammam und Warner, Schlüsselfiguren in Blatters Fifa-Puzzle, schmieden weiter ihre Allianzen. Auf den Fluren des Tagungshotels bewegt sich aber auch eine neue Mannschaft aus Antigua & Barbuda. Denn dort hat es im April freie Wahlen gegeben. Die Opposition gewann souverän. Mervyn Richards, ein ehemaliger Nationalspieler, wurde Präsident. Nun ermittelt die Polizeibehörde gegen Greene & Co. Präsident Richards ist ein zurückhaltender, leiser und nachdenklicher Mann. „Wir sind froh, dass wir endlich aufgeräumt haben auf Antigua“, sagt er. „Aber ich muss Ihnen auch sagen, dass ich ein bisschen Angst habe, weil ich von der Fifa-Politik doch gar nichts verstehe.“