Es war die siebte IOC-Vollversammlung, die Jacques Rogge als Präsident leitete, und es war für ihn persönlich die erfolgreichste. Er hat in der vergangenen Woche in Guatemala seine Idee der Olympischen Jugendspiele durchgepeitscht, er hat 27 IOC-Mitglieder problemlos im Amt bestätigt, vier neue Mitglieder ins Gremium lanciert, seinem Exekutivkomitee nie da gewesene Vollmachten für das Olympische Programm zugeschustert, und am letzten Tag durfte er sich auch noch über die Wahl seines Vertrauten Gerhard Heiberg (Norwegen) ins IOC-Exekutivkomitee freuen. Immerhin besiegte Heiberg mit 49:22 Stimmen sehr deutlich Juan Antonio Samaranch Junior, dessen Vater wenige Tage zuvor die Wahl von Sotschi gedeichselt hatte. Insofern könnte man den Belgier Rogge zum Sieger von Guatemala erklären.
Doch so einfach ist das gar nicht, denn gleichzeitig hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) weiter an Glaubwürdigkeit verloren. Doch der Reihe nach. Natürlich war die Vergabe der Winterspiele 2014 an Sotschi das dominierende Ereignis der 119. IOC-Session. Das IOC hat sich kaufen lassen von einer Allianz aus Wirtschaftsgiganten und hochrangigen Politikern. Rogge will das natürlich nicht zugeben, weshalb er, statt wie gewohnt klar und deutlich zu argumentieren, einen verbalen Eiertanz aufführte. So sprach er in seinem Resümee der Tagungswoche von Guatemala beispielsweise darüber, dass das IOC überprüfen wolle, ob die Anwesenheit von Staats- und Regierungschefs bei der Olympiavergabe in Zukunft erwünscht sei – zuletzt hatten Tony Blair (London 2012) und Wladimir Putin (Sotschi 2014) Olympiasiege errungen. „Das kann Vor- und Nachteile haben“, sagte Rogge.
In wenigen Tagen wird er sich in Moskau mit Putin treffen. Ebenso macht sich Gerhard Heiberg auf den Weg in Putins Metropole. Marketingchef Heiberg kündigte auf der Session frank und frei an: „Ich fliege nach Moskau und sehe zu, was ich rausschlagen kann. Ob es nun ein Vertrag mit Gazprom wird oder mit anderen Firmen. So oder so: Die Angebote sind interessant.“
Diese Angebote hätte es bei einer Abstimmungsniederlage Sotschis in dieser Höhe wohl kaum gegeben. So aber wird Heiberg problemlos einen Etappensieg vollenden und dem IOC erstmals einen Sponsor aus dem ehemaligen Sowjetreich zuführen. Im olympischen Sponsorenprogramm Top VI (für die Jahre 2005 bis 2008) wird das IOC erstmals mehr als eine Milliarde Dollar generieren. Begonnen hatte das IOC vor zwanzig Jahren im ersten Top-Programm (1985 – 1988) mit 96 Millionen Dollar. Heiberg spricht ebenfalls ganz offen darüber, dass er als nächstes einen Partner aus den Golfstaaten erwartet. Kein Wunder, die Scheichs wollen Olympische Spiele, für 2016 hat sich bereits Katars Hauptstadt Doha beworben, wie Rogge erklärte. Bislang stehen Chicago, Rio de Janeiro, Baku, Doha, Tokio und Madrid auf der Warteliste – Meldeschluss ist im September.
Akuter finanzieller Nachholbedarf besteht derzeit nur beim Abschluss der amerikanischen Fernsehrechte für 2014 und 2016. Gern will das IOC schnell einen Deal mit dem Network NBC einfädeln. Allerdings hatten die US-Amerikaner zuvor deutlich gemacht, für Spiele in Sotschi weniger zu zahlen als für Spiele in Salzburg. Die Crux besteht darin, dass das IOC, obgleich es bereits mehr als 700 Millionen Dollar auf der hohen Kante hat, auf ständiges Wachstum angewiesen ist. Etliche Millionen werden ja auch für Rogges neue Jugendspiele gebraucht.
Die Finanzfragen haben zudem eine personelle Dimension. Denn Rogge und seinen Unterhändlern war oft vorgeworfen worden, sie verfügten nicht über das Format des Vorgänger-Duos Richard Pound und Michael Payne. Pound, ein unvergleichlicher Geldeintreiber im IOC, war von Rogge abserviert worden, genau wie Payne, der Schwiegersohn Samaranchs, der jahrelang fest angestellter IOC-Marketingchef war und jetzt für Bernie Ecclestone in der Formel 1 Milliardensummen generiert.
Besonders für den IOC-Finanzchef Richard Carrion, einen 54-jährigen Banker aus Puerto Rico, Absolvent des berühmten Massachusetts Institute of Technology, ist ein einträglicher Abschluss mit NBC unverzichtbar. Carrion wird nicht nur als potenzieller Rogge-Nachfolger gehandelt, er gilt auch als der Favorit des Präsidenten.
Jacques Rogge selbst hat in den letzten Jahren dazugelernt. Er hatte es zunächst mit Demokratie und völlig freier Diskussion versucht in den Vollversammlungen – und war damit mehrmals eklatant gescheitert: 2002 vertagte die Session in Mexiko seinen Plan, das Olympische Programm umzugestalten. 2005 gab es in Singapur das programmatische Fiasko, als die Session nur Baseball und Softball, die jüngsten olympischen Familienmitglieder, ausscheiden ließ, aber Karate, Squash, Inlineskating, Golf und Rugby (Rogge war belgischer Rugby-Nationalspieler) nicht akzeptierte. Geradezu lächerlich waren die Abstimmungen über Squash und Karate, denen zunächst der Status als Olympiasportart gewährt wurde, kurz darauf aber die Zweidrittel-Mehrheit verwehrt wurde, die zur Aufnahme in das Programm der Spiele 2012 berechtigt hätte.
„Dieses Procedere war unlogisch“, sagte Rogge nun in Guatemala. „Das hat keiner in der Öffentlichkeit verstanden, nicht einmal wir selbst.“ Deshalb hat er das Procedere geändert – dies ist ein Quantensprung in der Geschichte der Olympischen Spiele und des IOC. Erstmals liegt die Verantwortung für die Komposition des Programms fast völlig beim Exekutivkomitee. Bisher hatte allein die Vollversammlung über Sportarten entschieden, die Exekutive konnte in Zusammenarbeit mit den Fachverbänden Disziplinen hinzufügen, streichen oder ändern. Diese Dualität war ein Jahrhundert lang eine der heißdiskutierten olympischen Machtfragen.
Künftig ist es so: Das Exekutivkomitee stellt, erstmals für die Sommerspiele 2020, eine Liste von 25 Kernsportarten zusammen und darf maximal drei weitere Sportarten hinzufügen. Die Session kann darüber nur im Block entscheiden; nötig ist eine einfache Mehrheit.
Es fällt auf, dass Rogge inzwischen Blockabstimmungen den Einzelabstimmungen vorzieht. So hat er am Donnerstag bereits die Wiederwahl von 27 IOC-Mitgliedern durchgezogen, was kein überzeugendes demokratisches Zeichen war. So soll es künftig auch in der Programmfrage abgehen. Zurück zu den Wurzeln, kann man wohl sagen: Rogge lässt abstimmen wie einst Juan Antonio Samaranch. Die ganz private Botschaft, die Rogge in Guatemala seinen Pappenheimern gab, könnte man so umschreiben: „Ich habe es mit Demokratie versucht, aber ihr habt mir die Gefolgschaft immer mal verweigert. Jetzt trickse ich euch aus und gebe euch die Peitsche.“ Und schon parierte der olympische Haufen. IOC-Mitglieder wollen es offenbar nicht anders.
Rogge ist besser vorbereitet als sonst in die Session gegangen. Er hat die Macht des Exekutivkomitees in jeder Beziehung ausgebaut. Samaranch Senior wird es erstaunt zur Kenntnis genommen haben. Allerdings hat Ehrenpräsident Samaranch (86) in Guatemala den größten Sieg errungen: Binnen weniger Stunden drehte er in Vieraugengesprächen den Trend gegen Sotschi und besorgte sechs IOC-Stimmen, die verhinderten, dass die Russen bereits in Runde eins scheiterten.
Die spannende Frage für das IOC lautet nun, ob es dem intern gestärkten Rogge, der sich extern in größere Abhängigkeit zu Politik und Wirtschaft begeben hat, gelingt, wieder inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. Den Kampf gegen Doping, gegen Gigantismus, gegen Korruption, gegen Gewalt und für die Glaubwürdigkeit des Sports hatte er sich bei seinem Amtsantritt auf die Fahnen geschrieben. Zuletzt überzeugte er argumentativ nur selten und paktierte zu oft mit zweifelhaften Mächten. Es wäre nicht die schlechteste Option für die Zukunft des olympischen Sports, wenn sich das wieder ändern würde.
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