LONDON. Was ich heute vor habe: In ein, zwei Stunden wird ein live-Blog für den ganzen Nachmittag/Abend aufgemacht. Da können wir die wunderbar entspannte und witzige Eröffnungsfeier nachklingen lassen und auch sonst über Olympia schwatzen. Abends habe ich ein Ticket, aber „non tabled“ für die Schwimm-Finals. Wenn es in der Halle Wlan geben sollte, blogge ich live mit dem Laptop auf den Oberschenkeln oder am iPad (Formatierungen, Links und Fotos muss man sich dann denken). Oder ich setzt mich in das Sub-Pressezentrum und stöpsele das MacBook Air an die Internetleitung. So will ich es dann eigentlich bis zum Abschlusstag der Spiele halten. Das Millionstel an Eindrücken, Erlebnissen, Geschehnissen, Hintergründen, das ich als Einzelner von diesem Zirkus aufnehmen kann, das möchte ich, wie immer, gern teilen und diskutieren.
Während ich mich nun mit Overunderground in Richtung Westfield Mall in Stratford und MPC begebe, biete ich eine kleine Zeitreise an. Manch einer wird es schon vergessen haben. Andere, wie mein Sohn, der die Eröffnung gestern Klasse fand „Alles! Nicht nur Mr. Bean!“, wurden zu spät geboren, um zu wissen, dass die Spiele der XXX. Olympiade, wäre es nach deutschen Sportfunktionären gegangen, ja gar nicht in London stattfinden sollten.
Sondern in Leipzig.
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Erinnert sich eigentlich noch jemand daran, dass diese Spiele der XXX. Olympiade eine deutsche Vorgeschichte haben? Im April 2003, hatte das damals noch existierende Nationale Olympische Komitee (NOK) den Kandidaten Leipzig als Olympiastadt 2012 auserkoren. Es war der Anfang vom Ende eines grandiosen Missverständnisses. Leipzig statt London? Acht Jahre nach dem Scheitern des Projekts klingt allein schon die Frage absurd.
Wäre es nach Erich Honecker gegangen, hätten sogar schon die Spiele 2000 in Leipzig stattgefunden. Der DDR-Staats- und Parteichef hatte, inspiriert durch das Werben des einstigen IOC-Präsidenten und KGB-Spions Juan Antonio Samaranch, kurz vor dem Mauerfall eine Machbarkeitsstudie erstellen lassen. Doch selbst die DDR-Planer winkten ab: zu teuer. Ein Jahrzehnt später belebte Wolfram Köhler, ehemals Oberbürgermeister von Riesa, die Idee von Olympischen Spielen in Sachsen. Leipzigs heutiger Oberbürgermeister Burkhard Jung, damals Sport-Beigeordneter, und dessen Vorgänger Wolfgang Tiefensee, griffen die Überlegung gierig auf und adaptierten Köhlers Pläne als die ihren.
Im innerdeutschen Wettstreit mit Düsseldorf/Rhein-Ruhr, Frankfurt am Main, Hamburg und Stuttgart wurde Leipzig – da noch im Team mit Riesa, Chemnitz und Rostock-Warnemünde (Segeln) – vom NOK auf Platz eins gehievt. Leipzig profitierte vor allem davon, dass sich die finanziell und infrastrukturell weit besser ausgestatteten Mitbewerber Düsseldorf und Hamburg in einem sportpolitischen Kleinkrieg ausmanövrierten. Für einige Monate begab sich Leipzig in den Wettbewerb mit Weltmetropolen: London, Paris, Madrid, New York, Moskau, Rio de Janeiro, Istanbul und Havanna. Bis das IOC-Exekutivkomitee am 18. Mai 2004 ein Stoppzeichen setzte. Rio, Istanbul, Havanna und Leipzig wurden aussortiert und kamen nicht in die Endrunde. Leipzig sei schlichtweg zu klein für die Spiele, urteilten die IOC-Bosse, die längst genug hatten von den dauerhaft schlechten Schlagzeilen aus Deutschland über Misswirtschaft und Skandale in der Leipziger Kampagne. Die IOC-Vollversammlung votierte im Juli 2005 unter den verbleibenden Bewerbern für London.
- Das ist der Bericht der IOC-Prüfungsgruppe vom Frühjahr 2004, in dem Leipzig aussortiert wurde (pdf, 98 Seiten)
In Leipzig wurden absurde Verschwörungstheorien gesponnen. Ob Politiker, so genannte Wissenschaftler oder als Journalisten getarnte Fans der heimischen Medien – sie alle machten wahlweise „den Westen“, das IOC oder böse deutsche Investigativ-Reporter für das Scheitern verantwortlich. Dabei waren alle Probleme hausgemacht: Misswirtschaft, Intransparenz, dubiose Finanztransaktionen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, es gab zahlreiche Rücktritte, Suspendierungen und Turbulenzen. In der Heldenstadt wurde ein unwürdiges Schauspiel zelebriert. Die Hauptrolle spielte, natürlich, Wolfgang Tiefensee, das so genannte „Gesicht der Bewerbung“. Er pflegte ein eigenwilliges Verhältnis zur Wahrheit, gibt noch heute Märchen über diese Zeit zum Besten und stilisiert die Bewerbung als Opfer fremder Mächte. In Leipzig gingen fehlgeleitete, ahnungslose Olympiafans, angeführt vom Pfarrer Christian Führer, im Herbst 2003 sogar auf die Straße, um unter völliger Verkennung der Tatsachen für Olympia zu werben.
[Disclosure: Ich war an den Enthüllungen nicht ganz unbeteiligt. Ergebnis der Recherchen waren gut 100 Texte, damals noch in der Berliner Zeitung, der Wächterpreis der Tagespresse und ein Buch „Operation 2012“, das Grit Hartmann und Cornelia Jeske gemeinsam mit mir geschrieben haben. Auf der Webseite Ans Tageslicht sind einige Texte, ein Rechercheprotokoll und etliches mehr zu finden. Dort finden sich großartige andere Recherchen vieler Kollegen, ich empfehle diese Dokumentation immer wieder gern.]
- Die Berichte
- So liefen die Recherchen
- ABC der Akteure
- Dokumente
- Netzwerke, Literatur
- Sportjournalismus: Faire Berichte?
- Leipzig und seine Medien
Leipzigs Chefplaner um Tiefensee und Jung laborierten an unvergleichlicher Arroganz und Selbstüberschätzung. Die Olympia GmbH und das NOK waren personell zu schlecht besetzt. Tiefensee duldete aus purer Eitelkeit nicht einmal Katarina Witt als Frontfrau der sächsischen Bewerbung, wie ihm empfohlen worden war. Die zweimalige Olympiasiegerin Witt, die Jahre später akzeptable Arbeit für die Münchner Bewerbung um die Winterspiele 2018 ablieferte, hätte Tiefensee in den Hintergrund gedrängt.
„Der Westen“, wie Tiefensees Propagandisten trompeteten, hat diese Bewerbung nie boykottiert. Es ist sogar so: Tiefensee blieb die größte Blamage nur deshalb erspart, weil sein SPD-Parteigenosse Otto Schily (West) als damaliger Bundesinnenminister die Bewerbung nicht einstellte. Das hätte nach den Querelen und Enthüllungen des Herbstes 2003 eigentlich geschehen müssen. Doch Schily wusste als Sportminister, und damit Hauptsponsor des deutschen Spitzensports, sowie als Aufsichtsratsmitglied der Olympia GmbH diese Blamage zu verhindern. Dadurch blieb auch Tiefensees Parteikarriere noch eine Weile im Lot und er durfte später Bundesverkehrsminister werden.
International war Leipzig nie ernst genommen worden. Und in der Rückschau ist diese Bewerbung nicht viel mehr als ein Treppenwitz der Sportgeschichte, so wie ihr Slogan, der da hieß: „One family“. Einen offenen innerdeutschen Wettbewerb, wie ihn das NOK einst zuließ, wird es nie wieder geben. Die NOK-Nachfolgeorganisationen DOSB entscheidet über Olympiabewerbungen in kleinen, geschlossenen Zirkeln. DOSB-Präsident und IOC-Vize Thomas Bach sowie DOSB-Generaldirektor Michael Vesper, der für 2012 als Sportminister von Nordrhein-Westfalen die Düsseldorfer Bewerbung unterstützte, werden nicht noch einmal Demokratie spielen und die Bewerbung quasi öffentlich ausschreiben.
Am 18. Mai 2004 stoppte das IOC die Pläne. „Das Exekutivkomitee hat erkannt, dass Leipzig in dieser Phase nicht in der Lage ist, exzellente Spiele durchzuführen“, sagte Präsident Jacques Rogge. Er verkündete das Urteil übrigens im „Saal Berlin“ eines Kongresszentrums in Lausanne. Sollte sich Deutschland noch einmal um Olympische Sommerspiele bewerben, kommt nur Berlin dafür in Frage, weil nur Berlin die Bedingungen des IOC erfüllt. Ende der Diskussionen.
- Und wer darüber richtig viel lesen möchte, hier noch die Diplomarbeit von Stefan Behning an der Universität Göttingen aus dem Jahr 2005: Warum die Olympiabewerbung Leipzigs scheiterte – eine Analyse der deutschen Presse (pdf, 214 Seiten)
„Wir“ haben schon das erste Gold „vergeben“, titeln Blätter gerade zum Biedermann-„Debakel“.
Das wäre in Leibzsch garantiert nicht passiert!
(Und damit ist die nächtliche Entspannungsphase auch schon wieder gröblichst beendet.)
Oh, da habe ich wohl wieder was verpasst. Deutschland in Not, was meinst Du?
Laut ZDF ist Biedermann in seinem Vorlauf über 400m Freistil die ersten 200m zu schnell angegangen (Experte Keller: „die ersten 50 sogar unter seinem WR“). Biedermann im Flash-Interview anderer Meinung.
Biedermanns Zeit reicht nicht für das Finale am Abend (ZDF Thomas Wark: „er braucht heute abend nicht in die Halle zu kommen“).
Naja, „wir“ haben Medaillendebakel, andere Staatsbankrotte.
Fürchte nur, erstere werden für schlimmer gehalten. Die übliche Dramapalette wird sich auftun: Wie konnte es dazu nur kommen? Zu viel Popkultur um Steffen/Biedermann? Vesper mutmaßlich: „leider nicht der erhoffte Schub“.
Und was soll bloß aus dem neuen „Helden-App“ der Sporthilfe werden. Kann man nur hoffen, Greipel reißt es raus.
Am Ende die erwartbaren Stimmen der Vernunft: Nun aber bitte nicht zu viel Kritik – siehe Robert Enke.
Was ich sagen will: Das Grauen hat begonnen.
Oh nein und was ist jetzt mit der Zielvorgabe? ;(
Gua 5, jetzt muss halt Turmspringen ran. Oder aber das ad-hoc Meilensteingespräch am Beckenrand ergibt: Auch Sportler der Herzen zählen als Medaille.
Ja, aber wir haben doch noch den „Deutschland-Achter“!!!EINSELF! :D
Die 4x 100m Freistilstaffel der Damen ist übrigens auch schon raus…für das ZDF ist der erste Tag beim Schwimmen schon ein Debakel
@jw, ist jetzt hier noch Leipzig Trumpf oder können wir schon auf Aktuelles umschalten?
#7 unter Dramaturgieaspekten wäre ein Hoffnungslauf des Achters aber besser gewesen. Jetzt muss bis Mittwoch die „Wir“-Zeit überbrückt werden.
@ mb: Ich beginne sofort einen neuen Beitrag.
Pingback: #London2012 (XI): Von “Pleiten” und “Blamagen”. Muss das so sein, Kollegen? : jens weinreich
Sehr kluger Kommentar bei Facebook entdeckt (#zdfsport)
Zu obigem Beitrag ein paar Erinnerungen von mir als Riesaer. Erwähnter Wolfram Köhler (später als Manager von Axel Schulz und heute als Kindergärtner in Florida tätig) hatte mit bis heute nicht völlig klaren Methoden und Summen eine überdimensionierte Veranstaltungshalle in die Gegend geklotzt und dorthin Leute wie Muhammad Ali, Elton John, AC/DC, Bryan Adams etc. geholt. Nicht vergessen, wir sind nicht Leipzig oder Dresden sondern eine Provinzstadt von derzeit etwa 37.000 Einwohnern. Als dann die Olympiapläne Köhlers in der Lokalpresse auftauchten, dachten viele: „Jetzt ist er völlig verrückt geworden!“ Denn wenn ich mich recht erinnere, bezogen sich diese Überlegungen einzig und allein auf Riesa, Leipzig kam erst viel später – wahrscheinlich, als er den Irrsinn erkannte – ins Spiel.
Ich habe damals die Verkündung der offiziellen Kandidatenstädte, bei der Leipzig durch den Rost fiel, im TV verfolgt. Die Open Air-Veranstaltung in der Messestadt war aber auch so richtig schön piefig aufgezogen. Mit Puhdys-Auftritt und vielen Anwesenden, die Rogges huschhusch-Verkündung gar nicht recht verstanden und sich ziemlich verdattert anstarrten. „Was, das war’s schon?“
Die Verschwörungstheorien habe ich nur am Rande mitbekommen. Der Tenor der Kritik, wie ich sie überwiegend registrierte, bezog sich auf eine Äußerung Jacques Rogges späteren Datums, in der er sagte, dass das IOC prinzipiell keine Sommerspiele mehr in Städte unter einer Million Einwohner vergeben würde. Daher hieß es also meistens: „Warum hat der das nicht gleich gesagt? Dann hätten wir uns den ganzen Sch… hier sparen können…“
Mittlerweile ist Köhler längst nach Hinterlassung eines Schulden- und Problembergs weg, Elton John kommt auch nicht mehr – aber wenigstens Florian Silbereisen, Andy Borg und Mario Barth suchen Riesa regelmäßig heim. Kollateralschäden einer missglückten Olympiabewerbung…
Ich les mir gerade mit Interesse oben verlinkte Dipomarbeit durch und sehe, dass die Größenproblematik von Seiten des IOC durchaus bereits vor dem nationalen Entscheid zugunsten Leipzigs angesprochen wurde – wieder was gelernt!
Olympische Spiele bei den Sachsen oder Angelsachsen, was solls? In beiden Ländern haben sozialdemokratische Regierungen denen, die es schon haben, Steuerspargesetze (und andere Extras) verschafft.
ganz so wichtig sind die Spiele nicht, Schalke is ja nich dabei
Sie wollten „das Lillehammer des Sommers“ werden, sagt Dirk Thärichen heute. Hatte ich auch noch nicht gehört. Oder schon wieder vergessen.
dapd: Tröger für Sommerspiele
Hanns-Georg Rodek in der Welt: Wie Gerhard Schröder Leni Riefenstahl verkaufte
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