We are at a tipping point for international sport, whose future may well be in doubt.“
Richard Pound, IOC-Doyen
Es ist eine Flucht nach vorne. Der Vorstand des von spektakulären Doping- und Korruptionsfällen schwer erschütterten Internationalen Olympischen Komitees (IOC) geht nach einer Krisensitzung in die Offensive. Der Olympiakonzern unternehme alles, um „saubere Athleten zu schützen“, heißt es in einer länglichen Erklärung vom Dienstag. So teilte die IOC-Führung mit, bei Nachkontrollen eingefrorener Dopingproben von den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking seien 31 Athleten aus zwölf Ländern und sechs Sportarten des Dopings überführt worden. IOC-Medizindirektor Richard Budgett hatte die Analysen vor zwei Monaten angekündigt. Namen wurden nicht genannt, zunächst würden die betreffenden Nationalen Olympischen Komitees (NOK) zeitnah informiert, hieß es. Das IOC versprach weitere Nachtests der Proben von Medaillengewinnern 2008 und 2012 (London).
Wenig später wurde ein Meinungsbeitrag des IOC-Präsidenten Thomas Bach auf der IOC-Webseite und mancher Tageszeitung veröffentlicht (in Deutschland übernimmt diese Posaunenfunktion traditionell die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Die Unschuldsvermutung könnte in Frage stehen“), in dem Bach von einer „schockierenden neuen Dimension“ und „beispielloser krimineller Energie“ sprach, sollten sich die Enthüllungen des russischen Whistleblowers Grigori Rodschenkow über das staatlich sanktionierte russische Dopingsystem bewahrheiten.
- New York Times: „Russian Insider Says State-Run Doping Fueled Olympic Gold“
Woran kaum Zweifel bestehen.
Am Mittwoch versprach der UDIOCP Thomas Bach schließlich auf einer Telefonkonferenz mit ausgewählten Journalisten, es würden alle beteiligten Personen und Verbände zur Verantwortung gezogen – sogar lebenslange Sperren zog er in Erwägung, dabei hat er als Funktionär stets gegen lebenslange Sperren und sogar gegen Vierjahressperren gekämpft, die seiner Meinung nach gegen Menschenrechte verstoßen würden. Doch in Krisenzeiten wie diesen stellt sich Bach als Hardliner dar. Ausgerechnet er, der Wladimir Putins Propaganda-Winterspiele 2014 bisher stets in höchsten Tönen als „die Spiele der Athleten“ gepriesen hatte.
Bach ist weltweit unter Druck geraten, seine PR-Maßnahmen folgen in diesen Tagen einem altbekannten Muster, er nennt es gern „proaktive Kommunikation“ und bedient sich wie so oft Verbündeten in den Medien. (Von den üblichen Drohgebärden seiner Anwälte gegenüber Journalisten ist mir derzeit allerdings nichts bekannt.)
Der Reihe nach. Zunächst das Thema Peking: Es handelt sich nicht um die ersten Nachtests der Peking-Proben. Schon 2009 waren einem halben Dutzend Sportlern die Verwendung des Blutdopingmittels Cera nachgewiesen worden. Daraufhin wurde dem für Bahrain startenden Marokkaner Rashid Ramzi die Goldmedaille über 1.500 Meter aberkannt. Auch der italienische Radprofi Davide Rebellin musste seine Silbermedaille zurückgeben. Allerdings war bei der Auswahl der Proben, die in Paris, Lausanne und Köln auf Cera und Insulin untersucht wurden, offenbar selektiert worden. Auch bei den nun vom IOC bekannt gegebenen Fällen wurde selektiert: Man hat sich auf die Proben von Sportlern konzentriert, die für einen Start bei den Sommerspielen 2016 im August in Rio de Janeiro in Frage kommen. Von einer transparenten, unabhängigen Nachkontrolle aller Proben kann also keine Rede sein.
Bei den Heimspielen 2008 in Peking hatte China mit einer gigantischen Medaillenausbeute (51 Gold, 21 Silber, 28 Bronze) Rang eins der Nationenwertung belegt. Es gibt viele Parallelen zu den Vorgängen sechs Jahre später in Russland, die derzeit Schlagzeilen machen: Russland stieg durch ein ausgeklügeltes, staatlich sanktioniertes Betrugsprogramm bei den Winterspielen 2014 in Sotschi zur Nummer eins der Medaillenwertung auf. Dazu gehörte offensichtlich die gezielte Manipulation von Dopingproben im olympischen Labor in Sotschi, wie der inzwischen in die USA geflüchtete damalige Laborleiter Grigori Rodschenkow kürzlich detailliert beschrieb.
Mittlerweile ermittelt das US-Justizministerium wegen möglicher Verschwörung und Betrugs gegen Russland. Federführend für die Ermittlungen sei die Staatsanwaltschaft für den östlichen Bezirk von New York – dort, wo auch die Machenschaften im Fußball-Weltverband FIFA aufgeklärt werden. Der Druck auf das IOC wird somit erhöht. Bach erklärte am Mittwoch, er sei über derartige Ermittlungen nicht informiert und wisse auch nicht, auf welcher rechtlichen Grundlage diese laufen sollten. Im Kontakt zu seinem Sportkameraden Putin im Kreml stehe er derzeit nicht.
Zahlreiche positive chinesische Dopingfälle darf man von den neuen Analysen gewiss nicht erwarten. Ähnlich wie die Russen im Winter 2014 dürften auch die Chinesen im Spätsommer 2008 alles unternommen haben, um das Ergebnismanagement in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der Prüfbericht sogenannter „unabhängiger Beobachter“ aus dem Herbst 2008 liefert dafür zahlreiche Anhaltspunkte. Einige Beispiele, die wir an dieser Stelle damals ausführlich diskutiert haben:
- Lediglich 102 der 205 Nationalen Olympischen Komitees kamen – ohne Sanktionen des IOC – ihrer Meldepflicht zu den Aufenthaltsorten der Olympiasportler nach.
- Nur vier der 28 olympischen Sommersportverbände hatten ein vorolympisches Blutscreening-System – dazu gehörte ausgerechnet der Leichtathletikverband IAAF, wo sich Doper freikaufen konnten, wie man inzwischen weiß.
- 300 von 4.770 Testergebnissen blieben zunächst verschwunden, nach öffentlicher Kritik erhielt die WADA erst zwei Monate nach den Spielen die Resultate – natürlich allesamt negativ.
- Bei 140 weiteren Tests gab es auffällige Werte, die nicht gemeldet wurden. Nur ein Teil der Urinproben wurden auf das weit verbreitete Blutdopingmittel Epo (und verwandte Substanzen) überprüft.
In Peking wurden gemäß IOC-Angaben 3.801 Urin- und 969 Blutproben genommen. Sie wurden eingefroren und ins ebenfalls in negative Schlagzeilen gerückte Dopingkontrolllabor von Lausanne überführt. Das IOC hatte 2008 eine zeitnahe Überführung der Proben versprochen. Tatsächlich lagerten die Tests aber rund zwei Monate in China im Zugriffsbereich der KP-Bonzen, auch deshalb ist Skepsis angebracht. Aus der olympischen Geschichte sind etliche spektakuläre Vertuschungsaktionen bekannt: So wurden 1980 in Moskau viele Proben nicht untersucht, die eindeutige Spuren anaboler Steroide aufwiesen, wie sich bei späteren inoffiziellen Analysen zeigte. 1984 in Los Angeles verschwanden positive Testergebnisse auf mysteriöse Weise aus dem Hotelzimmer des IOC-Dopingchefs Alexandre de Merode.
In dieser Tradition steht der Umgang mit den Proben von Peking und Sotschi, wo die IOC-Führer Jacques Rogge und Thomas Bach als Juniorpartner gigantischer Propagandafeste agierten. Der Belgier Rogge stand 2008 felsenfest an der Seite des korrupten Staats- und Parteichefs Hu Jintao („Don’t mix politics with games“). Der Deutsche Bach demonstriert seit seiner Wahl im September 2013, die auch mit dem Wohlwollen Wladimir Putins erfolgte, bei jeder Gelegenheit seine Verbundenheit zum russischen Präsidenten.
Nicht nur nach Darstellung des Whistleblowers Rodschenkow haben der russische Geheimdienst FSB und das russische Sportministerium die Ergebnisse der Winterspiele 2014 beeinflusst und dafür gesorgt, dass fünfzehn einheimische Medaillengewinner nicht als Doper enttarnt wurden. Zur Aufklärung dieser Vorgänge versprach das IOC-Exekutivkomitee „schnelles und entschlossenes Handeln“. Man vermied Aussagen zu den sich weltweit häufenden Forderungen, Russland von den Sommerspielen in Rio auszuschließen.
Dazu empfehle ich auch den Beitrag von Richard Pound in The Globe and Mail:
The current elephant in the room is, on the same assumption, what the IOC will decide regarding Russian participation in Rio. This will be a major credibility issue for the IOC and, indeed, for the Olympic Movement as a whole. Will the philosophy of fair play, honesty and the protection of clean (non-doping) athletes prevail? Or will those principles be sacrificed on some “political” altar? Do the rules of sport apply to major countries, or only to smaller countries? Does integrity matter?
The exposure of corruption and criminal conduct in two of the most important Olympic sports, soccer and athletics, frames the context in which the IOC will have to determine what course it follows. We are at a tipping point for international sport, whose future may well be in doubt.
Ähnlich zurückhaltend argumentierte man im zweiten Skandal, der die olympische Welt derzeit in Atem hält: der mutmaßlichen Korruption bei der Vergabe der Olympischen Sommerspiele 2020 an Tokio. Tokio hatte 2013 insgesamt zwei Millionen Dollar an eine dubiose Firma mit engen Verbindungen zu Papa Massata Diack gezahlt, Sohn des langjährigen IAAF-Präsidenten und IOC-Mitglieds Lamine Diack. Japans NOK-Präsident Tsunekazu Takeda, seinerzeit Chef des olympischen Bewerbungskomitees, bestätigte die Zahlungen inzwischen, weigerte sich aber im japanischen Parlament, Details dazu offenzulegen.
Die Vorgänge sind für den IOC-Präsidenten durchaus delikat, denn sowohl Diack als auch Takeda gehörten stets zu seinen engsten Verbündeten im IOC. Bach hat Takeda sogar zum Chef der IOC-Marketingkommission gemacht. Dessen Behauptung, bei den Zahlungen an Diack Junior, der in Frankreich per Haftbefehl gesucht wird und sich der Auslieferung im Senegal entzieht, handele es sich um legale Beraterhonorare, scheinen dem IOC-Exekutivkomitee schlüssig. Auf Maßnahmen innerhalb der olympischen Jurisdiktion wird verzichtet. Die IOC-Führung versprach lediglich, mit der französischen Justiz zu kooperieren und die Ermittlungen durch die aus Frankreich stammende Ethiksekretärin Pâquerette Girard Zappelli intensiv begleiten zu lassen.
- Eine Variante des Textes erschien auf SpiegelOnline: „Dopingskandal im olympischen Sport: Vertuschung mit allen Mitteln“
Na, das ist auch mal ein schönes Timing, unmittelbar vor dem Pokalfinale, 3 Wochen vor der EM: drohende Niersbach-Sperre, StA-Ermittlungen wegen des Rennbahngrundstücksdeals zugunsten des DFB gegen Frankfurter Lokalpolitiker – läuft. Schon mal Popcorn-Nachschub holen …
Was macht eigentlich das eBook so, verehrter Hausherr …?
SZ-Kommentar von René Hofmann: Sport ist ein Illusionstheater
Der Sport wird immer mehr wie eine Schindmähre geritten. Die Interessenverflechtungen zwischen Wirtschaft, Politik, Öffentlichkeit und Sport sind so eng und fest gezurrt, dass sich der Sport daraus alleine nie befreien kann. Kaum gibt es eine scheinbar schockierende Enthüllung, ist der nächste, noch schlimmere Betrug auf dem Weg gebracht. Der Hochleistungssport benimmt sich wie ein Dauerkranker, der sich freut , wenn der Arzt an sein Bett kommt.
Du sprichst mir aus der Seele. Ich spiele seit meiner Kindheit Fußball und inzwischen würde ich sagen, dass ich diesen Sport sogar liebe!
Umso abstoßender ist das Riesen-Geschäft, das die Big-Player daraus gemacht haben. Man kann da wohl nur auf den vierbeinigen Kollaps hoffen und für die Zwischenzeit eine sinnvolle Beschäftigung suchen.
(Dank an Jens, für einen tollen Job dabei, mir die Augen zu öffnen.)
Hoppla, den „vierbeinigen“ Kollaps hat mein komisches Eingabegerät aus dem „gierbedingten“ Kollaps gemacht. Ich hab nix gegen Haustiere.
SpOn: Doping-Nachtests von Peking: 14 russische Athleten unter Verdacht
dpa: 10 russische Olympia-Medaillengewinner von Peking positiv