Raucherpausen sind ungesund, aber wichtig. Wer sich viel auf Tagungen und Kongressen herumtreibt, weiß diese Momente zu schätzen, wenn die Süchtigen nach draußen eilen, um zu inhalieren. Zu wissen, wer raucht, kann durchaus hilfreich sein, wenn es darum geht, einen Kommentar zu erhaschen, um Gespräche zu bitten, Termine auszumachen oder diesen und jenen Sachverhalt bestätigen zu lassen. Raucherpausen sind eine Chance für Journalisten.
Im IOC-Umfeld checken Größen wie Scheich Ahmad Al-Fahad Al-Sabah, Prinz Faisal bin Al Hussein, Wladimir Lissin oder Nenad Lalović und etliche andere zunächst die Raucherecken, um wenig Zeit zu verlieren, wenn der Tagungsleiter ein Päuschen anberaumt. Dort wird so manches Thema bilateral besprochen. Als Beobachter sollte man sich daran orientieren. Gian Franco Kasper zählte zu diesem immer kleiner werdenden Trüppchen. Als er seine Karriere begann, wurde selbstverständlich noch während der Sitzungen geraucht, auch im Flugzeug, immer und überall. Fantastische Zeiten für einen wie ihn.
Die Zeiten haben sich entscheidend geändert. Doch eines blieb: Beim Rauchen konnte man Kasper näher kommen, sogar als Nichtraucher.
Natürlich ist auch Passivrauchen schädlich, weiß doch jeder. Angenehm war es selten, aber immerhin hat Kasper versucht, in die andere Richtung zu qualmen. Trotz vieler Jahre der ungesunden Konversation wuchs er mir ans Herz. Da kamen, vor allem nach den Raucherpausen, Dutzende Stunden an Gesprächen zusammen. Kasper war immer ansprechbar, stets streitbar, nicht feige wie die meisten, und er hat Anrufe angenommen oder zurückgerufen. Derlei Eigenschaften sind noch immer selten, zumal er jahrzehntelang zu den einflussreichsten Funktionären der olympischen Branche zählte.
Kasper war wenige Tage vor dem Wahlkongress der Fédération Internationale de Ski (FIS), der Anfang Juni virtuell stattfand und den schwedisch-britischen Milliardär Johan Eliasch zum Präsidenten wählte, mit Atemnot ins Spittal eingeliefert worden.
Gian Franco Kasper ist am Freitag, am 9. Juli 2021, im Alter von 77 Jahren gestorben.
Mit Kasper endet die Schweizer Ära in der FIS, die ihresgleichen sucht. Nicht einmal die FIFA, wo ein Generalsekretär aus dem Wallis (Joseph Blatter) Präsident wurde, um dann von einem anderen Generalsekretär aus dem Wallis (UEFA, Gianni Infantino) beerbt zu werden, kann das bieten.
Die FIFA ist in der Deutschschweiz, in Zürich, domiziliert. Blatter übernahm 1981 das Generalsekretariat von seinem Schwiegervater Helmut Käser, den er aus dem Amt gedrängt hatte. Nehmen wir die Zeit von Käser ruhig dazu, denn er war ja der eigentliche FIFA-Boss als Verwaltungschef, dann herrschen die Schweizer seit 1960 über die FIFA bzw deren Administration. Sind auch schon wieder 61 Jahre.
Gian Franco Kasper wurde 1975 von Marc Hodler von seinem Posten bei der Schweizerischen Verkehrszentrale in Montreal für den Job bei der FIS abgeworben. In jenem Jahr, 1975, hatte Blatter bei der FIFA begonnen, ausgewählt von einem gewissen Horst Dassler.
Marc Hodler war von 1951 bis 1998 Präsident der FIS. Sein Generalsekretär Gian Franco Kasper übernahm dann und führte die FIS bis zum Juni 2021.
70 Jahre herrschten Hodler und Kasper, zwei Schweizer, über den Ski-Weltverband, der in Oberhofen am Thunersee domiziliert ist, ebenfalls in der Deutschschweiz, wie die FIFA und die IIHF. Wenige Kilometer entfernt, in Thun, wohnte Gian Franco Kasper.
Es endet eine unvergleichliche Ära.
In 97 Jahren FIS gab es lediglich vier Präsidenten, 70 Jahre davon bestimmten Hodler und Kasper den Lauf der Dinge.
Johan Eliasch, CEO des Sportartikelherstellers HEAD, ist nun erst der fünfte Präsident in der Geschichte der FIS.
In diesen 97 Jahren hatte die Katholische Kirche immerhin acht Päpste, von Pius XI. bis Franziskus, und das Internationale Olympische Komitee (IOC) hatte ebenfalls acht Präsidenten, von Pierre de Coubertin bis Thomas Bach.
Marc Hodler hat übrigens an der Seite von Peter Kasper maßgeblich die Olympischen Winterspiele 1948 in St. Moritz organisiert. Der prägende Einfluss der Familien Hodler und Kasper reichen also noch einige Jahre weiter zurück. Peter Kasper war der Vater des im Januar 1944 geborenen Gian Franco. Peter Kasper war drei Jahrzehnte Kurdirektor von St. Moritz.
Derlei Reminiszenzen lassen aber auch erahnen, wie problematisch es ist, wenn jemand nicht von seinem Amt lassen kann. Das wiederum ist ein typisches Problem des organisierten olympischen Sports.
Es tut mir leid, das zu sagen, weil ich ihn sehr mochte, aber selbstverständlich hatte Gian Franco Kasper seine besten Tage weit hinter sich. Es schmerzte zunehmend, seine verbalen Unfälle zu hören und zu beobachten. Mehrfach in den vergangenen Jahren machte er weltweit für ein paar Stunden Schlagzeilen, mal als Leugner des Klimawandels, mal weil er nicht als erster Sportfürst aussprach, was alle wissen: Großereignisse und Mega-Events lassen sich in Diktaturen leichter ausrichten.
Man konnte es Kasper übrigens sagen, wenn er wieder mal Mist erzählt hatte. Tatsächlich hat er manchmal geantwortet: „Ich weiß doch auch nicht, was mich da wieder geritten hat.“
Für alle verbalen Fehlpässe hatte Kasper in der Öffentlichkeit nur Erklärungen, die immer seltener überzeugten. Ähnlich absurd war der zunehmende Hass an der FIS-Spitze: zwischen der seit dem Jahr 2000 amtierenden Generalsekretärin Sarah Lewis OBE und eben Kasper.
Kasper sah es als eine seiner letzten Aufgaben an, die Präsidentschaft von Lewis zu verhindern.
Im Herbst 2020 wurde Lewis abgesetzt.
Bei der virtuellen Wahl am 4. Juni 2021 war die in der Schweiz am Thunersee lebende Britin Lewis für Belgien an. Es gewann der von Großbritannien nominierte gebürtige Schwede Eliasch. Der Milliardär erreichte bereits im ersten Wahlgang mit 65 Stimmen die absolute Mehrheit. Der Schweizer Urs Lehmann erhielt 26 Stimmen, Lewis 15, der Schwede Mats Arjes 13.
Mission accomplished. Aber ich weiß nicht, ob Gian Franco Kasper im Krankenhaus noch in der Lage gewesen ist, dieses Ergebnis wahrzunehmen und vielleicht sogar seinen letzten Willen zu genießen.
Ich habe ein wenig darüber gehört, warum das Verhältnis von Kasper und Lewis so zerrüttet war. Das tut hier und heute aber nichts zur Sache. Nur mal eine Episode, um die Absurditäten zu verdeutlichen: Zuletzt, vor Corona, habe ich im Mai 2019 an der Gold Coast beim SportAccord Kongress ausführlich mit Kasper geplaudert – natürlich bei vielen Zigaretten. Im Hintergrund wurden wir von Sarah Lewis beobachtet, die später gleich zu mir kam und ihr Interesse an unserem Gespräch nicht wirklich verbergen konnte.
Das Duo war nicht etwa gemeinsam an die Gold Coast geflogen, und flog auch nicht gemeinsam zurück. Selbstverständlich nicht. Der Einfallsreichtum beider war legendär, gemeinsame Termine zu vermeiden.
Als Journalist hat Kasper seine berufliche Laufbahn begonnen. Als Journalist stelle ich hier nochmal klar: Er hieß Gian Franco, nicht Gianfranco und nicht Gian-Franco, wie er im Nachruf des IOC genannt wird. Ich habe ihn auch oft falsch geschrieben.
IOC-Mitglied war Kasper von 2000 bis 2018 ex officio, also in seiner Eigenschaft als Präsident eines olympischen Weltverbandes, so wie einst Blatter, so wie Lord Coe, so wie Infantino. Ab der Session 2018 in Buenos Aires war Kasper IOC-Ehrenmitglied.
Auf der FIS-Webseite wird Kasper zur Stunde immer noch als Präsident geführt. Die Administration in Oberhofen hat anderes zu tun. Der neue Boss Eliasch führt dort gerade viele Gespräche. Sehr bald wird sich alles ändern.
Ich habe, in memoriam während des Schreibens, die Aufzeichnung unseres letzten Gesprächs damals in Australien abgehört. Wir haben uns über Grundsätzliches unterhalten: Wie macht man Sportpolitik – und wie bleibt man an der Macht? Wie sinnvoll ist das Wahlsystem one country, one vote, das die FIS als einer der wenigen olympischen Verbände nicht hat?
Wir sprachen natürlich über die Supermächte im Weltsport, über Russland, China, auch über Saudi-Arabien und Katar.
Kasper sagte, er sei ganz froh, dass die FIS noch nicht ins Visier von Katar und Saudi-Arabien geraten sei, so wie viele andere Weltverbände. Wenigstens dieses Problem bliebe ihm erspart.
Dann sagte er: „Schnee fällt immer nur auf intelligente Länder.“
Wie bitte?
„Man sagt doch so: Schnee fällt immer nur auf intelligente Länder. Aber bitte nicht schreiben!“
Was hätte das zu seinen Lebzeiten für eine überflüssige Schlagzeile werden können.
So war er, der ewige Präsident. Immer ein offenes Wort und ein offenes Ohr, zunehmend leider etwas tollpatschig. Sein Ruf hatte gelitten. Dennoch musste man ihn bis zuletzt mögen, selbst wenn er nicht vom Amt lassen konnte.
Gian Franco Kasper hinterlässt eine pflegebedürftige Frau, die seit Jahrzehnten an Multipler Sklerose leidet, und seinen Sohn Gian Marchet Kasper.
Ruhe in Frieden, lieber Gian Franco.
Uf wiederluege!
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