Hat das olympische Boxen eine Zukunft über die Sommerspiele 2024 hinaus? Die Frage ist nicht neu, doch sie dürfte zeitnah beantwortet werden. Entscheidungen des IOC-Exekutivkomitees werden erwartet – und damit auch die endgültige olympische Suspendierung des Weltverbandes IBA.
In Paris werden im kommenden Jahr definitiv Box-Wettbewerbe für Frauen und Männer ausgetragen. Allerdings nicht unter der Verantwortung der International Boxing Association (IBA formerly known as AIBA), sondern erneut, wie 2021 in Tokio, organisiert vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC). Im Programm der übernächsten Sommerspiele 2028 in Los Angeles steht Boxen allerdings nicht mehr, und der olympische Weltverband IBA ist seit 2019 vom IOC vorläufig suspendiert.
Das endgültige Olympia-Aus würde für den Deutschen Boxsport-Verband (DBV) eine gewaltige Mittelkürzung bedeuten. Derzeit bekommt der DBV aus dem Etat des für Spitzensport zuständigen Bundesinnenministeriums 2,5 Millionen Euro jährlich. Eine Einstufung in den nicht-olympischen Bereich würde mit einer Kürzung der Fördermittel um rund 80 Prozent einhergehen. Der Unterschied in der Förderung von olympischen und nicht-olympischen Sportarten ist gewaltig. Ohne das Label der fünf bunten Ringe lässt sich Hochleistungssport in kaum einem Verband finanzieren.
Natürlich läuten die Alarmglocken. Es geht um das nackte Überleben.
Neugründung World Boxing als IBA-Alternative
Ein Fünkchen Hoffnung macht die angekündigte Gründung des zweiten olympischen Weltverbandes World Boxing (WB), der sich als transparente Alternative zur seit Jahrzehnten schwer korruptionsverseuchten und in russischer Hand befindlichen IBA positioniert. Deutschland zählt bisher neben den Niederlanden, den USA, Großbritannien, Schweden, den Philippinen und Neuseeland zu den sieben Abweichlern, die vom russischen IBA-Präsidenten Umar Kremlev als Schurken bezeichnet und mit dem Ausschluss aus der IBA bedroht werden. DBV-Sportdirektor Michael Müller gehört zum zehnköpfigen vorläufigen WB-Vorstand. Offiziell soll World Boxing erst im November 2023 gegründet werden und seinen ersten Wahlkongress abhalten.
Im DBV, der von eigenen Problemen wie dem Missbrauchsskandal seit Jahren erschüttert ist, amtiert seit März der neue Präsident Jens Hadler. Er formuliert als seine wichtigste Aufgabe, „dass Boxen olympisch bleibt“. In dieser Woche will sich Hadler mit allen Landesverbänden, seinem Vorstand, dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem Bundesinnenministerium abstimmen und das weitere Vorgehen besprechen. Vorerst legen sie im DBV Wert auf die Feststellung, dass man weiterhin IBA-Mitglied ist und dem neuen Verband WB noch nicht beigetreten sei.
An der Männer-WM Anfang Mai in Taschkent nimmt der DBV ohnehin nicht teil, wie schon nicht an der Frauen-WM kürzlich in Neu Delhi. Man nennt es nicht Boykott, offiziell heißt es, man konzentriere sich auf die European Games im Juni in Polen, wo es um Olympia-Qualifikationen für Paris geht. Bei den European Games in Krakau sind Russen und Belarussen nicht zugelassen – bei den IBA-Weltmeisterschaften allerdings: Russland gewann jüngst in Indien einen kompletten Medaillensatz, Belarus eine Bronzemedaille.
Adidas und der Quell der AIBA-Korruption
Bis Dezember 2021 hieß die IBA noch AIBA, doch egal unter welchem Namen: Korruption auf allen Ebenen, im Boxring und unter Kampfrichtern und Funktionären, ist seit 1986 die skandalöse Konstante dieses Sports. Medaillen wurden gemäß Aktenlage bei Olympischen Spielen seit 1988 teilweise schon ein Jahr vorher festgelegt. Das IOC und höchste Funktionäre des IOC haben diese Praxis über Jahrzehnte geduldet und teilweise unterstützt. Der heutige IOC-Präsident Thomas Bach gehörte 1986 zu jener sogenannten sportpolitischen Abteilung des Sportartikelkonzerns Adidas, der die Führung der AIBA mit dem schwer korrupten Adidas-Mitarbeiter Anwar Chowdhry aus Pakistan neu besetzte. Ich beschreibe diese Vorgänge seit gut drei Jahrzehnten.
Criminal Olympic boxing, how it all began: With the installation of the heavily corrupt Adidas man Anwar Chowdhry at 1986 AIBA Congress.
— SPORT & POLITICS (@JensWeinreich) April 13, 2023
What role did Thomas Bach play at the time, now the IOC Deity?
Read my story on this from 1996, published unchallenged @derspiegel.@Kremlev_U pic.twitter.com/v9SbApakRs
Basis-Lektüre zu den korrupten Umtrieben im olympischen Boxen, also in AIBA und IOC, denn das ist kaum zu trennen: IOC und sogar der von der AIBA einst als Aufklärer für eine Millionensumme verpflichtete Richard McLaren stellen es aber so dar, als bestünden da nur rudimentäre oder keine Zusammenhänge. Alles Nonsens, Propaganda. Tatsächlich begann das Korruptionszeitalter im Olympiaboxen Mitte der 1980er Jahre unter Mitwirkung alter Bekannter hier im Blog: Adidas, Horst Dassler, Jean-Marie Weber, John Boulter u.a.m. … auch ein gewisser IOC-Präsident arbeitete seinerzeit ganz eng mit diesen Herrschaften, von denen einige (Dassler, Weber et al) für eines der größten Korruptionssysteme der Sportgeschichte verantwortlich waren – zu diesem gewaltigen ISL-Korruptionssystem mit mehr als 142 Millionen Franken Schmiergeldzahlungen an höchste olympische Würdenträger ist dieses Theater international die erste Anlaufstelle, mit Dutzenden exklusiven Berichten und Hintergründen und natürlich der ISL-Schmiergeldliste (was davon übrig blieb).
Also, einige wenige Texte:
– Schatztruhe geöffnet (1996 meine erste Arbeit für den SPIEGEL)
– SPORT & POLITICS Nr. 1
– Der Pate von Taschkent
– live aus PyeongChang (25): RIP, Jean-Marie Weber, größter Schmiergeldzahler der olympischen Geschichte
– live aus PyeongChang (2): Olympische Systemfragen. Die Nähe zum organisierten Verbrechen
– Thomas Bach: die vielfältigen Lebenssachverhalte des unpolitischsten deutschen IOC-Präsidenten
– Leseprobe „Macht, Moneten, Marionetten“: Liebesgrüße aus Moskau
– † Anwar Chowdhry
Zwanzig Jahre nach der Machtübernahme durch Adidas/Chowdhry übernahm das IOC-Mitglied Ching-Kuo Wu aus Taiwan die Präsidentschaft der AIBA und galt als Erneuerer – machte aber tatsächlich so weiter wie bisher und stützte sich auf kriminelle Figuren wie den Usbeken Gafur Rachimow. Dieser wurde schon Ende der 1990er Jahre von Kriminalisten in mehreren Ländern als Mafiosi und Drogenhändler geführt und durfte deshalb als AIBA-Vizepräsident nicht zu den Olympischen Spielen 2000 nach Australien einreisen. Damals setzte sich die IOC-Führung bei der australischen Regierung für Rachimow ein. Erst viele Jahre später, als Rachimow auf diversen internationalen Fahndungslisten stand, kam es zum Bruch mit dem IOC. Im Juni 2019 wurde die AIBA suspendiert, wieder einmal wurden Millionen aus dem olympischen Vermarktungsprogramm eingefroren, das IOC organisierte das Boxturnier bei den Sommerspielen in Tokio selbst.
Und als ergänzende Lektüre auch die beiden Berichte von McLaren & Co vom September 2021 und Juni 2022:
Die Herrschaft des Putin-Fanboys Kremlev
In der AIBA übernahm der Russe Umar Kremlev die Präsidentschaft. Russlands Staatskonzern Gazprom zahlte rund 40 Millionen Dollar, damit konnten Altschulden getilgt und ein in der olympischen Welt übliches Entwicklungshilfe-Programm aufgebaut werden. Wobei Entwicklungshilfe oftmals gleichzusetzen ist mit Stimmenbeschaffung für den amtierenden Präsidenten. Kremlev machte aus der AIBA die IBA, sperrte Herausforderer von Wahlen aus und beauftragte den Kanadier Richard McLaren mit einer millionenschwere Untersuchung der Ära Ching-Kuo Wu. Ergebnis: Misswirtschaft und Korruption unter Wu, der nicht nur IOC-Mitglied war, sondern auch dem IOC-Exekutivkomitee angehörte. Wu trat aus dem IOC zurück.
Im Dezember 2021 verlängerte und verschärfte das IOC-Exekutivkomitee den Bann für die IBA. Boxen gehörte neben Gewichtheben und dem Modernen Fünfkampf zu den drei traditionellen olympischen Kernsportarten, die aus dem vorläufigen Programm der Sommerspiele 2028 in Los Angeles gestrichen wurden. Stattdessen nahm das IOC Surfen, Rollsport und Sportklettern ins Programm und erklärte, dass die IBA zwar noch eine Chance habe, sie aber voll am Tropf des Staatskonzerns Gazprom hänge und damit die Autonomie des Sports nicht gegeben sei. Zwei Monate später begann der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Seither haben sich die Fronten weiter verhärtet: Das IOC sieht seine Forderungen an die IBA unerfüllt – Kremlev attackiert mit Unterstützung von Wladimir Putin das IOC bei jeder Gelegenheit.
Das IOC ist allerdings alleiniger Besitzer der Olympischen Spiele. Nur das IOC legt fest, welche Verbände, Sportarten und Disziplinen ins olympische Programm gelangen. Das IOC hat die Olympia-Tantiemen der Boxer für die Sommerspiele in Tokio (17,3 Millionen Dollar) einbehalten.
Eine Revolution in der IBA gegen Umar Kremlev und damit Gazprom wird es nicht geben. Deshalb besteht für das Boxen nur eine Chance, doch noch ins Programm der Sommerspiele 2028 zu gelangen und darüber hinaus eine olympische Zukunft zu haben: Wenn möglichst schnell Dutzende der aktuell 204 Nationalverbände zur neuen Organisation World Boxing wechseln. Dass die Gründung von World Boxing schneller verkündet wurde als erwartet, hat auch damit zu tun, dass das Organisationskomitee der Sommerspiele 2028 Boxen im Olympia-Programm will. Die Zeit drängt. Boxen ist in den USA Publikumsmagnet, keine Nation hat mehr Olympiasiege als die Amerikaner. Das IOC erfüllt seinen Organisationskomitees in der Regel einige Wünsche nach zusätzlichen Sportarten.
Neben den 28 Sportarten, die für Los Angeles bereits festgelegt sind, stehen neun Weltverbände als Anwärter bereit: Boxen, Gewichtheben, Moderner Fünfkampf, die vom IOC vorerst Verbannten, dazu Motorsport (E-Kart), Cricket, Karate, Baseball und Softball, Lacrosse, Breakdance, Kickboxen, Squash und American Football.
Das Ein-Platz-Prinzip als Ausnahme vom Kartellrecht
Das Organisationskomitee will Boxen. Auch deshalb war der US-Boxverband federführend bei der Gründung der WB. Es gibt im IOC-Reich weder klare Zeitpläne noch transparente Kriterien für das olympische Programm. Die Entscheidung wurde bereits verschoben. Das Exekutivkomitee könnte jederzeit, schon auf der nächsten Sitzung im Juni, den Daumen heben oder senken. Die Absegnung durch die IOC-Vollversammlung ist dann nur eine Formalie. Die nächste IOC-Session findet im Oktober in Mumbai statt. Deshalb kann man davon ausgehen, dass der Gründungskongress von World Boxing wohl doch noch vorgezogen wird – vor den Termin der IOC-Session.
Normalerweise ist das Ein-Verbands-Prinzip ein Heiligtum im olympischen Sport. Dies besagt, dass es pro Sportart nur einen Weltverband, einen Kontinentalverband und einen Nationalverband geben soll. Das Ein-Verbands-Prinzip, unter Juristen auch Ein-Platz-Prinzip genannt, bedeutet vereinfacht gesagt: Sportmonopole und damit Ausnahmen vom Kartellrecht sind erlaubt, weil man davon ausgeht, dass nur dadurch die Durchsetzung weltweit einheitlicher Regeln für jede Sportart gewährleistet werden kann.
Das Boxen gehört traditionell zu den Ausnahmen. Im Profiboxen gibt es seit jeher zahlreiche oft dubiose sogenannte Weltverbände. Im Amateurboxen, das seit 1904 olympisch ist, gab es seit 1946 den Weltverband AIBA. Die AIBA führte einst das Wort Amateur im Namen. Inzwischen spricht man nur noch vom olympischen Boxen, das in Deutschland vom DBV, in Europa von der EUBC und weltweit von der IBA vertreten wird.
Versuche von Neugründungen als Alternative zu korrupten Weltverbänden hat es immer mal gegeben, etwa im Volleyball. Derlei Initiativen wurden von der Allianz der olympischen Verbände und vom IOC stets gnadenlos bekämpft. Im Boxen könnte das nun erstmals anders sein. Wenngleich das IOC kaum proaktiv tätig wird und World Boxing offiziell unterstützt. Darauf setzen zwar einige der Unterstützer von World Boxing, auch die Deutschen. Das IOC wird aber zunächst abwarten, bis sich eine größere Anzahl von Nationalverbänden dem neuen Weltverband anschließt. Das sollten mindestens 50 sein, bestenfalls mehr als die Hälfte der 204 IBA-Mitglieder. Noch klingt das unrealistisch. Alle warten auf ein Signal aus Lausanne.
Einem möglichen Rechtsstreit mit der IBA kann World Boxing gelassen entgegen sehen. Denn es gibt in der Juristerei und in der Politik durchaus Klarheit in der Frage, wann das Ein-Verbands-Prinzip ausnahmsweise gekippt werden kann: Wenn die Integrität des sportlichen Wettbewerbs gewährleistet werden soll (die in der AIBA/IBA seit Jahrzehnten mit Füßen getreten wird), wenn es um elementare Regeln einer guten Unternehmensführung und das Interesse der Sportler geht – all das ist im Vergleich zwischen World Boxing und IBA gewährleistet.
Die Antwort auf die Kernfrage ist deshalb eindeutig: Eine olympische Zukunft hat dieser Sport nur außerhalb der IBA.
Eine kürzere Version dieses Textes wurde zuerst im SPIEGEL veröffentlicht: „Wie das olympische Boxen ums Überleben kämpft“
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Wenn ich das Foto / die Bildmontage mit Roy Jones Jr. sehe, muss ich daran denken, wie er 1988 im Kampf gegen den Südkoreaner Park Si Hun betrogen wurde. Mit solchen Skandalen tut sich der Boxsport keinen Gefallen. Im Profibereich kann der leider verstorbene Graciano Rocchigiani auch ein Lied von Fehlurteilen singen.