Wenn Ihnen diese Leseprobe zusagen sollte und Sie mehr wissen/lesen wollen – hier geht es zum Shop und auch zum Ebook „Macht, Moneten, Marionetten“. Dies ist eine gekürzte Version des Putin-Kapitels, nur ein Dutzend von knapp 600 Seiten:
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Stellen wir uns Wladimir Putin als einen ganz normalen Menschen vor.
Nicht als einen Werwolf. Nicht als einen Kriegstreiber. Nicht als einen besonders üblen Demagogen. Nicht als einen Paria. Nicht als einen Mörder. Nicht als einen Diktator. Oder als was er sonst noch bezeichnet wird in diesen Tagen.
Natürlich hat dieser Putin, der Mensch, so seine Gefühle. Manchmal zeigt er sie sogar. Aber selten so offen wie für einige Minuten am 9. August 2013. An jenem Tag wurde Anatoli Rachlin beigesetzt. Rachlin war für Putin ein zweiter Vater. Er war mehr als sein Trainer, der ihm Sambo und Judo beibrachte. Rachlin war ein Berater für alle Fragen des Lebens. Er saß manchmal sogar mit am Tisch, wenn Putin die Führung des russischen Judoverbandes versammelte und kund tat, was getan werden müsse, wenn er den europäischen Verband versammelte und verkündete, was getan werden müsse, wenn er Bosse des Weltverbandes versammelte und erzählte, was man tun könne und solle. Rachlin hat Putin und dessen Schulfreunden, den Rotenberg-Brüdern Arkady und Boris, Disziplin vermittelt beim Sambo- und beim Judotraining. So hat es Putin oft erzählt. Vor laufenden Kameras hat er zu Rachlins Beisetzung geweint, nicht nur in Russland, in aller Welt wurde darüber diskutiert, was das bedeute. Dann ließ er sich filmen, wie er, übermannt von seinen Gefühlen und seinen Gedanken nachhängend, allein eine leere, weil abgesperrte St. Petersburger Straße entlang schlenderte.
Er kann einfach nicht aus seiner Haut. Er muss inszenieren.
Sambo, Sie werden davon womöglich noch nichts gehört haben, ist eine vom NKWD und der Roten Armee erdachte Kampfsportart, die zuletzt eine rasante Entwicklung nahm, flink noch in das Programm der Asian Beach Games 2014 (ausgerichtet von Scheich Ahmad Al-Sabah), der European Games 2015 (ausgerichtet vom Diktator Ílham Alijew) integriert wurde und beste Chancen hat, im Rahmen der von Thomas Bach erdachten Agenda 2020 mit Unterstützung der Judo- und Ringer-Weltverbände bald bei Olympischen Spielen ausprobiert zu werden.
Wenn Putin das möchte.
Die Gespräche mit dem IOC, dem vom Putin-Freund Marius Vizer geführten IJF, wo Putin Ehrenpräsident ist, dem UWW, wo Putins Vertrauter Michail Mamiaschwili Vizepräsident ist, und dem Sambo-Weltverband FIAS laufen seit etwa einem Jahr intensivst, ungefähr seit Bach übernommen hat in Lausanne. Der FIAS wird von Wassili Schestakow geführt, er hat sich schon mit Bach und mit IOC-Direktor Christophe Dubi getroffen. Ehrenpräsident des FIAS ist Wladimir Putin, ich habe gar nicht gezählt, in wie vielen Weltverbänden Putin Ehrenpräsident ist, gefühlt werden es täglich mehr. Als FIAS-Vizepräsident agiert der ukrainische Milliardär Andrej Kliamko. Er und Schestakow lassen keine Gelegenheit aus, für ihr Business zu werben, die Kontakte sind doch sehr erstaunlich, man lässt sich Lobbying auf höchster Ebene etwas kosten. In der Duma wurde gerade eine Ausstellung eröffnet mit dem Titel: Sambo in Russland und (überall) in der Welt. Allein die Sambo-Geschichte könnte ein Buch füllen.
Der Duma-Abgeordnete Schestakow gehört zur Hundertschaft von Aufsteigern, einige von ihnen sind inzwischen Milliardäre, ein paar mehr Minister und werden sicher auch nicht am Hungertuch nagen, die Putin aus St. Petersburger Zeiten kennt und die von ihm nicht vergessen wurden. Manchen vertraut er, manche sind Handlanger, sie alle gehören zum Zirkel des Wladimir Wladimirowitsch, der ja auch ein Sportzirkel ist. Sport, immer wieder, ganz zentral. Schestakow zählt zu den Förderern des Jawara Newa Judoklubs, wo Putin begann und Rachlin so lange wirkte. Schestakow verfasste mit Putin ein Judo-Buch, nicht das einzige Judo-Buch des russischen Zaren.
Die Jungs aus St. Petersburg, ob nun Putins Schulfreunde Rotenberg, die alleine an den Olympischen Spielen in Sotschi und an der Fußball-WM 2018 Milliarden verdienen, seine Untergebenen und Partner aus der St. Petersburger Stadtverwaltung in den 1990er Jahren wie Sportminister und FIFA-Exekutivmitglied Witali Mutko, Vizepremier und Olympiaminister Dmitri Kosak, oder die Mitglieder von Putins berühmter und geheimnisvoller Datschen-Kooperative Osero wie Wladimir Jakunin (Chef der russischen Eisenbahnen), Andrej Fursenko (ehemals Minister) und Sergej Fursenko (Gazprom-Mann, UEFA-Exekutivmitglied und Sponsor von UEFA und FIFA), Juri Kowaltschuk (bekannt als Putins Banker) oder ein weiterer Milliardär, Gennadi Timtschenko (u.a Boss der Kontinental Hockey League), sie alle – und einige mehr – bestimmen den Lauf der Dinge in Russland. Dass etliche von ihnen auf der seit Ausbruch der Krimkrise ständig erweiterten Sanktionsliste des US-Justizministeriums stehen, lässt diese Herrschaften, wie man weiß, offiziell nur lachen. Wer nicht drauf steht, muss was falsch gemacht haben, sagen sie. Sie betreiben in vielfältiger Weise im Sport ihre Geschäfte. Dazu kommen viele anderen Oligarchen und Firmen.
Sie machen, was Putin anordnet. Der bietet ihnen eine Kryscha, ein schützendes Dach. Diese Vokabel erlangte im Umfeld der Mafia eine besondere Bedeutung. In die neue Zeit übersetzt hat der Autor Luke Harding (Mafiastaat) den Begriff Kryscha so:
Unseren Freunden, alles! Unseren Feinden, das Gesetz!
Über viele dieser Verbindungen wurde im Sotschi-Jahr und zuvor ausführlich berichtet. Es gibt Dutzende Bücher über Putin, großartige Bücher, spannende TV-Dokumentationen. All diese Typen kommen darin vor. Ich will mich beschränken und nur einige Aspekte herausgreifen, die nicht jeden Tag beleuchtet werden, die mir aber beim Nachdenken über die Frage wichtig scheinen, warum sich der Sport so bereitwillig arrangiert. Liegt das nur am Geld?
In der ARD-Dokumentation Ich, Putin von Hubert Seipel, der öfter Putin-Interviews macht, spricht Putin über seine Jugend auf den Straßen von Leningrad. Er sagt:
Charaktereigenschaften allein reichten nicht mehr aus, um natürlicher Anführer zu bleiben. Da brauchte ich Instrumente um meine Stellung im Rudel aufrechtzuerhalten. Sport heißt, sich selbst mobilisieren zu können, sich völlig auf das Erreichen eines bestimmten Ziel konzentrieren zu können.
Die Stellung im Rudel
Sportveranstaltungen und Mega-Events sind für ihn nicht nur ein Hobby, so wie im vergangenen Jahrtausend viele Menschen Briefmarken sammelten, nein, Sport ist ein zentrales Element seines Lebens und seiner Politik. Seiner Stellung im Rudel. Seine Auftritte als größter Athlet aller Zeiten sind eine bizarr-dämliche Inszenierung, klar, Macho-Gehabe. Aber sie sind nicht nur Inszenierung. Er tickt wie ein Kämpfer. Nicht wie ein Fechter, die sind weniger direkt. Im Boxen, Judo, Ringen oder von mir aus auch im Sambo, ist List gefragt, das auch, aber es geht es straight zur Sache. Putin sagt oft, Koketterie oder nicht, dass er gern impulsiv ist und weniger nachdenke.
Newsweek und Der Spiegel erzählen uns, Putin sei ein „Paria der Weltgemeinschaft“. Welcher Gemeinschaft? Die des Westens, schon klar. Die aus dem späten 20. Jahrhundert. Paria bedeutet Ausgestoßener, Außenseiter und ist abgeleitet aus dem tamilischen Wort für einen Unberührbaren. Selbst wenn Putin Gefahr laufen sollte, im Westen geächtet zu werden (bitte mal bei den Gazprom-Figuren Gerhard Schröder und Franz Beckenbauer nachfragen), in weiten Teilen der Welt bleibt er aus geopolitischen und regionalen strategischen Erwägungen eine ganz große Nummer: in Japan, in China, in Südkorea, in Lateinamerika – wie Mitte Juli bei seinem Aufenthalt rund um das WM-Finale und das BRICS-Gipfeltreffen zu beobachten war. Putin ist im Sport alles andere als ein Paria.
Er ist die zentrale Figur.
Russland und Putin sind Nummer Eins im Olympic Power Index, den ich in diesem Ebook vorstelle.
IOC-Präsident Thomas Bach und FIFA-Boss Joseph Blatter suchen demonstrativ seine Gesellschaft. Sie sind seine Partner und Putin näher als jedem anderen Staatschefs des Westens.
Als im August 2014 die Forderungen nach einem Boykott der Fußball-WM 2018 in Russland lauter wurden und auf dem EU-Gipfel im Rahmen eines Sanktionspaketes diskutiert wurden, sprang der FIFA-Blatter seinem Geschäftspartner Putin geschwind zur Seite: Sport solle nicht mit Politik vermischt werden, erklärte Blatter im Beisein von Putin, der Weltklasse darin ist, Sport mit Politik zu vermengen. Sport solle nicht mit Politik vermischt werden, hatte im Februar auch der IOC-Bach getönt, als das IOC in Putins Residenzstadt Sotschi die Winterspiele ausrichtete. Bach feiert diese Propagandashow, während der Putin die Annexion der Krim vorbereitete, als grandiosen Erfolg. Blatter, Bach und Putin halten zusammen wie Pech und Schwefel. Bach und Blatter sind Meister darin, Politiker für ihre Zwecke einzuspannen. Putin ist ein ungekrönter Olympiasieger darin, Sport für seine Interessen zu instrumentalisieren. Eine Hand wäscht die andere – und es gibt viel zu waschen. Gerade hat sich Putin von Bachs treuem Gefolgsmann Julio César Maglione, IOC-Mitglied in Uruguay, den höchsten Orden des Schwimm-Weltverbandes FINA überreichen lassen. Das ist kein Zufall. FINA-Präsident Maglione macht das nicht, ohne sich mit Bach abzusprechen. Die Ordensbegründung liest sich abenteuerlich:
Wladimir Putins Engagement im Sport stärke „die Brüderlichkeit zwischen Nationen“ im „Geiste von Frieden und Freundschaft“.
Putins internationale Sozialisierung, um es mal so zu bezeichnen, ist eng mit dem Sportbusiness verbunden. Er wurde, nach seiner Zeit beim KGB-Horchposten in Dresden, in St. Petersburg die rechte Hand des glamourösen Bürgermeisters Anatoli Sobtschak. Zu Putins vielen Aufgaben zählte 1994 die Federführung bei den Goodwill Games, eine Art Ersatz-Olympia. Nach den beiden Olympia-Boykotten (1980 Moskau, 1984 Los Angeles) wurden die Goodwill Games von Ted Turner erdacht und finanziert. Die erste Edition fand 1986 in Moskau statt, Gorbatschow machte es möglich. Es folgte 1990 eine Version in Seattle – und 1994 das Abenteuer in St. Petersburg.
Der Leibwächter des Paten
Es war eine Zeit, da auf Russlands Straßen Krieg tobte, da sich die Mafia-Gangs bekämpften, die Staatsfirmen privatisiert wurden und sich also jene Netzwerke ausbildeten, die heute das Land dominieren. In St. Petersburg herrschte die Tambowskaja Gang, die bald beginnen sollte, ihre Drecksgeschäfte zu legalisieren und ihre Bosse auf Businessmen umzuschulen. Putin hat mal gesagt: „Für jeden getötet Polizisten muss man zehn Verbrecher erschießen, selbstverständlich im Rahmen der Gesetze.“ Ihre Kämpfer und Leibwächter rekrutierten die Mafiabanden unter den Kampfsportlern der Sportklubs, der Armee, der Polizei und des Geheimdienstes, wo sonst. Manche dieser erfolgreichen Sportler, wie der Ringer Michail Mamiaschwili, Medaillengewinner bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, wurden Leibwächter von Mafiagrößen, durften dann selbst Geschäfte übernehmen, die sie irgendwann legalisierten und so zu angesehen Mitgliedern der Gesellschaft wurden. Zum Präsidenten des russischen Ringerverbandes zum Beispiel, zum Vizepräsidenten des Weltverbandes UWW, immer nah an Putin. Solche Karrieren sind in Russland typisch.
Was wäre wohl passiert hätte Mamiaschwili damals in Moskau, im April 1994, den Mord an seinem Paten Otari Kwantrischwili verhindern können? Er hat es ja versucht und ist vor seinen Boss gesprungen, als die beiden aus der Sauna kamen, er hat zwei Kugeln abgefangen. Doch seinen Paten hatte der Sniper dennoch tödlich getroffen. Kwantrischwili hatte ein halbes Jahr zuvor die Partei Sportliches Russland gegründet, mit der er die Duma aufmischen wollte. Er hatte Legenden des sowjetischen Sports als Aushängeschilder dafür rekrutiert, darunter den größten Ringer aller Zeiten, den unvergleichbaren Alexander Karelin, der heute für Putins Partei Einiges Russland in der Duma sitzt. Auch Alexander Karelin begann seine Karriere Mitte der neunziger Jahre abseits des Sports als Personenschützer, allerdings bei der Polizei, nicht bei der Mafia. Alexander Tichonow zählte ebenfalls zu den Anhängern von Kwantrischwili. Tichonow, viermaliger Biathlon-Olympiasieger und lange Zeit Vizepräsident des Weltverbandes IBU, verwaltete Kwantrischwilis Lew-Jaschin-Fond für notleidende Athleten. Er hat sogar ein Buch geschrieben, das Otari heißt. Kwantrischwili sei „ein Gigant“ gewesen, „seine Worte waren Gold“, sagte Tichonow bei der Beerdigung des Paten. Er habe zwar viele Geschichten gehört, Kwantrischwili aber nie gefragt, womit der Geld verdiene. Weil der sich für eine wichtige Sache einsetzte – den Sport.
Hätte sich Otari Kwantrischwili mit der Sport-Partei, mit der Unterstüzung von Legenden wie Karelin, Wladislaw Tretjak oder Tichonow seinen Traum erfüllen und russischer Präsident werden können? Man kann nur darüber spekulieren. Was allerdings klar ist: Kwantrischwili hat die sowjetischen Sport-Traditionen beschworen, hat an den Stolz seiner Landsleute appelliert, denn man war ja mal Weltklasse und man könne das auch wieder werden, zum Wohle Russlands. Er war ein Menschenfänger. Sehr raffiniert. Ähnlich argumentiert Putin heute. Die Olympischen Spiele in Sotschi waren vorerst der Höhepunkt dieser Renaissance des Sports als politisches Mittel. Als ideologisches Mittel. Die Geschichte Olympischer Spiele zeigt, das derlei Propaganda nach außen verpufft, nach innen aber wirkt. So war das in Sotschi. Und 1936 in Berlin.
Und nun: Zurück zum Sport.
Ich habe 2013 während der IOC-Session in Buenos Aires in kleinem Kreise mit Mamiaschwilis Freunden und Partnern zu Abend gegessen. Ein IOC-Mitglied war dabei. Ein ehemaliger Mitarbeiter von Dasslers ISL und heutiger Olympia-Lobbyist, ein Politiker wie Karelin, ein Amerikaner, der gemeinsam mit den Russen die Kampagne zur Rettung des olympischen Ringens organisierte, kurzum: ein wunderbarer Querschnitt durch die olympische Familie. Ich saß neben Mamiaschwili, Mischa, dem Gastgeber, der sich irgendwann im Gespräch mit dem Ringer-Weltpräsidenten Nenad Lalovic in Rage redete. Ich mache ihn kalt, so ähnlich drückte er sich variantenreich einige Male aus, ein bisschen Russisch verstand ich schon noch. Wer gemeint war, verrate ich Ihnen nicht. Mischa ging rauchen und sich abkühlen. Ich fragte Lalovic, ob ich das richtig verstanden hätte. Der blieb ganz cool und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, er kläre das auf seine und keinesfalls auf die russische Weise. Da war ich sehr beruhigt und konnte mich wieder Alexander Karelin zuwenden, der sich viel Mühe gab, mir bei ziemlich vielen Getränken den Ringkampfsport, Borba wie der Russe sagt, als Schule des Lebens nahe zu bringen. Karelin hat Hände wie Bratpfannen, in denen man sibirische Elche zubereiten kann, und er hat eine Stimme, deren Bass einen Kontinent erschüttern lässt, das muss man dazu sagen. Widerspruch zwecklos.
Widerspruch erlaubt sich Karelin gegenüber einer Person übrigens nicht: Wenn Mamiaschwili auch nur zu einem Trinkspruch das Wort erhebt, geht ein Ruck durch die Körper seiner Landsleute. Achtung, der Boss. Michail Mamiaschwili, der sich todesmutig vor seinen Paten Kwantrischwili gestürzt hatte, dessen enger Draht zu Putin legendär ist, ist für Karelin & Co. eine, wie sagt man? Eine Autorität.
Und dieses Wort hat in diesen Kreisen eine etwas striktere Bedeutung.
Ich habe ein Faible für die russische Seele und Sympathien für urgewaltige Männer wie Karelin oder Mamiaschwili. Ich versuche zu verstehen. Olympischer Sport, all die Medaillen bei den Spielen, die wie auch immer zustande gekommen sein mögen, sind in den älteren Generationen tief verwurzelt. Sie waren dabei. Es ist ähnlich in Ostdeutschland, wo viele argumentieren, es sei ja nicht alles schlecht gewesen in der DDR, im Sport war man schließlich Weltklasse. Das ist das eine.
Das andere ist, was Leute wie Putin daraus machen.
Georgi Brusew, der ein bescheidenes Medienimperium führt und in Putins Auftrag den russischen Anteil an der Rettung des olympischen Ringens organisierte, hat mir in Lausanne mal erklärt, wie wichtig es in einem riesigen Vielvölkerstaat wie Russland sein kann, mit ein bisschen Sport die Dinge in die richtigen Bahnen zu lenken. „Ihr seht das zu einseitig im Westen“, sagte Brusew. Hätte man in der Kaukasus-Region nicht hunderte Ringerschulen und könnte den Kindern und Jugendlichen eine Perspektive bieten, würden die noch schneller zu Terroristen. So ungefähr. Es ist kompliziert. So sehen das Putins Leute. Und sie investieren eine Menge Geld. Nicht nur in Ringerschulen für Kids.
Zurück nach St. Petersburg ins Jahr 1994. Die Goodwill Games waren Putins Projekt. Ted Turner hat seinen ersten Kontakt zu Putin oft beschrieben. Putin hatte Turner und die damalige Jane Fonda (Turner) 1993 bei einer Inspektionsreise vom Flughafen abgeholt. Es war jener Tag, an dem Putins damalige Frau Ludmilla einen lebensgefährlichen Autounfall hatte. Putin verrichtete dennoch Dienst nach Vorschrift und begleitete die Turners. Irgendwann erzählte er von dem Unglück und Turner sagte, er solle mal von seiner Pflicht lassen und unbedingt ins Krankenhaus fahren, um sich um seine Frau kümmern, er komme schon allein zurecht. Putin hat ihn Jahre später daran erinnert und gesagt, er werde ihm diese Geste nie vergessen. (Vor allem half ihm an diesem Tag sein Stasi-Freund Matthias Warnig, heute Boss der Nordstream AG, für die sein neuer Freund Gerhard Schröder tätig ist. Warnig organisierte auf Kosten der Dresdner Bank den Transport von Frau Putin in ein deutsches Krankenhaus. Vielfach beschrieben, diese Geschichte, besonders gut mal in der Welt.)
Dieses Nievergessen von Freundlichkeiten, Gefälligkeiten oder auch Gegnerschaften zieht sich ebenfalls leitmotivisch durch Putins Leben.
Die Goodwill Games, die ich damals als Gast einer russischen Familie in einem jener Hinterhöfe miterlebte, in denen Putin aufwuchs, waren organisatorisch ein Chaos, aber spannend in das faszinierende Ambiente dieser wunderbaren Stadt eingebettet. Sie waren der Auftakt zu einem größeren Projekt. Putin leitete danach die Olympiabewerbung von St. Petersburg für die Sommerspiele 2004 ein, ich komme gleich darauf zurück, räumte zwei Jahre später jedoch, nachdem Sobtschak die Wahlen verloren hatte, seinen Posten und wechselte nach Moskau. Er wurde zunächst Chef der Liegenschaftsverwaltung des Kreml und stieg in atemraubenden Tempo auf. Es folgten im Jahresrhythmus der Wechsel ins Büro des Präsidenten Boris Jelzin, dann wurde er stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, Sekretär des Sicherheitsrates der russischen Föderation – und plötzlich war er der Präsident, den im Westen kaum jemand kannte. Der aber den Westen kannte. Wieder ein Jahr später war Wladimir Wladimirowitsch Gastgeber einer historischen IOC-Vollversammlung.
Der KGB spielt Schach
In der jüngeren Geschichte des IOC spielen Putin, die Sowjetunion, deren Zusammenbruch Putin als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, und Russland eine zentrale Rolle. Die Beziehung der Samaranch-Jünger zu Russland ist geradezu mystisch verklärt. Im Säulensaal des Hauses der Gewerkschaften, wo einst Lenin und Stalin aufgebahrt waren, an denen das Volk vorbei defilierte, wurde Juan Antonio Samaranch 1980 zum IOC-Präsidenten gewählt. KP-Chef Leonid Breschnew und Russlands Sportbosse wie Marat Gramow waren Samaranch Zeit ihres Lebens dankbar, dass er für Moskau gegen einen Boykott gekämpft und sich für die Teilnahme Spaniens eingesetzt hatte. In diesem Säulensaal übergab Samaranch 21 Jahre später die Macht an Rogge auf einer Session, die unter Putins Aufsicht stand. Dort haben Thomas Bach und Scheich Ahmad Al-Sabah offenbar ihre Abmachung für die Machtübernahme nach Rogge geschmiedet – so erzählt es der Scheich. Diese Vollversammlung 2001 wurde im Bolschoi-Theater eröffnet, Samaranch und Putin saßen jeder auf einem kleinen Thron in der ersten Reihe, als Giselle dargeboten wurde. Natürlich Giselle von Adolphe Adam, es war Samaranchs Lieblings-Ballett, er muss es in Moskau mehr als hundert Mal gesehen haben. Moskau war seine zweite Heimat.
Samaranch, ein glühender Verehrer des Generalissimo Francisco Franco und ehemaliger Sport-Staatssekretär, blieb nach Francos Tod 1975 in der Transistionsphase zunächst Präsident des katalanischen Regionalparlaments. Doch die Menschen demonstrierten gegen ihn und jagten ihn aus dem Amt. 1977 wurde Samaranch auf den Botschafterposten in Moskau abgeschoben. Es war, sportpolitisch betrachtet, eine Entscheidung von historischer Dimension. Zu jener Zeit war er bereits IOC-Vizepräsident und Moskau bereitete sich auf die Olympischen Spiele vor.
Horst Dassler hatte großes Interesse an der Sowjetunion, nicht nur geschäftlich, der Adidas-Boss liebte Russland und seine Geschichte, er lernte sogar Russisch. Einige von Dasslers engsten Mitstreiter in jenen Jahren der wildesten Deals war der Franzose André Guelfi, ein ehemaliger Formel-1-Fahrer und Geheimdienstler, Multimillionär, Lobbyist, Geschäftemacher. Mit Dassler bewältigte er damals viele Abenteuer. Sie gestalteten den Weltsport nach ihrem Gusto um. Sie machten Samaranch zum IOC-Präsidenten. Sie machten ein Jahr später Blatter zum FIFA-Generalsekretär. Immer wieder tauchen dabei Hinweise ins Geheimdienstmilieu auf. Das zieht sich durch die Jahre.
Zuletzt machte das Thema im Herbst 2009 Schlagzeilen, als der Historiker Juri Felschtinski gemeinsam mit dem ehemaligen KGB-Offizier Wladimir Popow im Buch Der KGB spielt Schach behaupteten, Samaranch sei selbst KGB-Agent gewesen. Der KGB habe 1980 in Moskau geholfen, die IOC-Stimmen für seine Wahl zu organisieren. Samaranch gewann 44:21 gegen den Schweizer Marc Hodler. Der KGB habe sich Samaranchs Mitarbeit erpresst, nachdem man den Botschafter beim Schmuggel mit Antiquitäten, Schmuck und Gemälden erwischt habe. Samaranch sei als sowjetischer Sport-General geführt worden, behauptete Popow, der sich 1996 nach Kanada abgesetzt hatte.
Für das IOC war das alles nur Spekulation. Samaranchs Vorgänger Lord Killanin hat mal gesagt: „Ich war der festen Überzeugung, dass der Posten eines IOC-Präsidenten nicht käuflich sein sollte. Es gibt eine wachsende Tendenz, und viele Gerüchte, sich Posten durch Gunstbezeugungen zu erschleichen.“ Wir wissen, dass der KGB damals mit der Stasi eine Kooperation zur Ausspähung von Sportverbänden, Adidas und ISL geschlossen hat. Wir wissen nicht, was die KGB-Akten dazu hergeben. Wir wissen nicht, ob sich Putin in seiner Zeit als FSB-Chef oder später je dafür interessiert hat. Ich will das nicht überbewerten, aber ein Schlüssel zum Verständnis der besonderen Beziehung und des besonderen Einflusses von Wladimir Putin im IOC-Business könnte durchaus in Archiven schlummern.
Zur IOC-Abstimmung über die Winterspiele 2014 wollte Samaranch, damals angeblich schwer krank, im Juli 2017 erst nicht nach Guatemala kommen. Dann tauchte er plötzlich doch auf, herbei geflogen von den Russen, die Angst hatten um Sotschi, betreut von Witali Smirnow. Samaranch war neben Putin, der vor dem IOC in die Bütt ging, Sotschis größter Trumpf.
Allein die Anwesenheit von Samaranch hat Sotschi Stimmen gebracht. Er hat viele alte Weggefährten daran erinnert, dass er ihnen einmal einen Gefallen getan hat. Da muss nicht immer mit unlauteren Mitteln nachgeholfen worden sein, manchmal reichte angeblich dies: Antun Vrdoljak aus Kroatien hat sich bei Salzburgs Olympiabewerbern unter Tränen entschuldigt, dass er nicht wie versprochen für sie, sondern für Sotschi gestimmt hat. Samaranchs Erscheinen, sagte Vrdoljak, habe alles geändert. Samaranch habe ihn daran erinnert, was er Anfang der neunziger Jahre während der Jugoslawienkriege für ihn und sein Land getan habe. Im Januar 1992 hatte Samaranch gemeinsam mit seinen IOC-Vizepräsidenten kurzfristig die Teilnahme Kroatiens mit einem eigenen Team an den Sommerspielen in Barcelona ermöglicht.
Vrdoljak sagte:
Ich konnte nicht anders.
Schon klar, die Szene erinnert an Don Vito Corleone.
Witali Smirnow, Cheforganisator der Sommerspiele 1980, gemäß Felschtinski ebenfalls KGB-Agent, ist heute Doyen des IOC, das dienstälteste Mitglied. Ein Wähler von Thomas Bach. Auf der Sondersession Anfang der Woche in Monaco spielte er brav die Rolle, die ihm der IOC-Präsident zugedacht hatte. Smirnow und einige seiner Familienmitglieder wie sein Schwiegersohn Andre Petelin haben an zahlreichen dubiosen Unternehmungen mitgewirkt. Mal eine Olympia-Lotterie, mal kassierten sie Leistungen aus Salt Lake City, mal führten sie eine ominöse Stiftung mit einer Postadresse gegenüber dem IOC-Hotel Palace in Lausanne, mal dieses und jenes. Und immer verschwand Geld. Die vielen Milliarden, die in den neunziger Jahren der vom IOC-Mitglied Schamil Tarpischtschew verwaltete so genannte Wodka-Fond erlöste, sucht man bis heute. Über diesen Fond durfte auf Grundlage eines Sondergesetzes von Jelzin zollfrei mit Schwermetallen und anderen Bodenschätzen, mit Alkohol und Tabakwaren gehandelt werden. Der Erlös sollte dem russischen Sport zugute kommen. Sollte. Aber Sportminister Tarpischtschew hat nicht so genau hingesehen – oder doch, nur nicht so, wie er es sollte. Wie viele Milliarden versickerten weiß niemand, es gab schon einige Schätzungen, mal 9, mal 12 Milliarden, hieß es. Pro Jahr. Doch wer zu laut darüber spekulierte, den ereilte schon mal ein bedauernswertes Schicksal. Menschen verschwanden von der Bildfläche oder wurden von Kugeln durchlöchert aufgefunden.
Hat sich das IOC jemals für die Vergehen von Tarpischtschew und den Wodka-Fond interessiert? Für, sagen wir: Aufklärung?
Niemals.
Im Dschungel des Verbrechens
Tarpischtschew, Jelzins Tennislehrer, der jüngst gerade Serena und Venus Williams als Brüder bezeichnet hat, wurde 1994 von Samaranch ins IOC aufgenommen. Er wird bis 2028 IOC-Mitglied bleiben. Natürlich nicht in vorderster Linie, aber im Team und noch einige Jahre als Handlanger von Putin. Zu Tarpischtschews besten Kumpels zählt seit Ewigkeiten Alimsam Tochtachunow, ein ehemaliger Dieb im Gesetz, also eine Autorität des organisierten Verbrechens, der bei den Winterspielen 2002 in Salt Lake City Eiskunstlaufwettbewerbe verschoben haben soll. Dieser Skandal machte monatelang weltweit Schlagzeilen. Tochtachunow wurde in Italien festgesetzt, kam nach Jahren der Untersuchungshaft frei und durfte nach Moskau ausreisen. Dort genießt er sein Leben, machte Geschäfte bei der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine, kümmert sich um eine Stiftung des russischen Fußballverbandes, gibt munter Interviews, trifft sich mit dem IOC-Mitglied und FIFA-Boss Blatter, schreibt seine Memoiren, die von seinem Freund Tarpischtschew vorgestellt wurden.
Mit einigen seiner Millionen soll er große Geschäfte in den USA gemacht haben, behauptet das FBI. Wegen Geldwäsche und anderer Vergehen drohen ihm 90 Jahre Haft, hier ist die Anklageschrift. Aber sie werden Taiwantschik, den kleinen Taiwanesen, so sein Spitzname, sowieso nie erwischen. Taiwantschik war früher auch ein Partner von Kwantrischwili, dem Gründer der Sport-Partei, na klar. Figuren wie er und Tarpischtschew mögen nicht zur ersten Garde der Macht gehören, sind aber nah dran. Immer noch. Die Vergangenheit schweißt zusammen. „Ich liebe Luxus, ich liebe Yachten, First-Class-Flüge, Geld ausgeben, aber sie lassen mich nicht“, schimpft Tochtachunow, ehemals Dieb im Gesetz, über ausländische Fahnder, die nicht kapieren:
Es gibt heute keine Kriminalität in Russland! Heute ist alles in Ordnung! Die alten Zeiten sind vorbei!
Tochtachunow kommt aus Taschkent. Tarpischtschew hat dort Fußball gespielt. Sie sind seit jenen Tagen bestens bekannt, um es vorsichtig auszudrücken, mit Alischer Usmanow, dem heute reichsten Russen, Chef der Gazprominvestholding, Boss von Megafon, Eigner von Arsenal London, Medienunternehmer, Olympiasponsor in Sotschi, Präsident des Fecht-Weltverbandes FIE. Sie sind Freunde. Craig Murray, ehemals britischer Botschafter in Usbekistan, nennt Usmanow nach wie vor und trotz aller Versuche, ihn mundtot zu machen, denn Usmanow bezahlt natürlich die teuersten Anwälte, die er in London bekommen kann, einen „schändlichen Schurken, Verbrecher, Heroin-Schieber und angeklagten Vergewaltiger“. So umfangreich wie im Jahr 2007 im Guardian hat sich Usmanow nie wieder zu seiner Vergangenheit geäußert.
Ein Vierter aus dem Taschkenter Dschungel ist Gafur Rachimow, langjähriger Vizepräsident des Box-Weltverbandes AIBA und des Olympic Council of Asia (OCA). Rachimow wird, wie Tochtachunow, in den USA gesucht. Ihm wurde im Jahr 2000 die Einreise zu den Olympischen Spielen nach Sydney verweigert, weil ihn das FBI als einen der Köpfe des Drogenhandels in Mittelasien führte und die australische Regierung ihn als „Gefahr für die Sicherheit des australischen Volkes“ klassifizierte. Seine Nähe zu Größen des organisierten Verbrechens ist hinreichend dokumentiert. Er hat ein Jahrzehnt lang jeden wichtigen Gast aus dem IOC-Tross in seiner prunkvoll aber geschmacklos – Gold! Gold! Gold! – eingerichteten Villa in Taschkent bewirtet. Er war der wichtigste Mann des Diktators und olympischen Ordensträgers Islam Karimow. Er hatte irgendwann nur das Problem, dass Karimows Tochter Gulnara gegen ihn arbeitete, um noch ein paar hundert Millionen Dollar mehr ergaunern zu können. Karimow ließ Rachimow fallen, der flüchtete ins Exil nach Dubai und beobachtete aus sicherer Entfernung den Lauf der Dinge. Seine Bewegungsfreiheit war auch deshalb eingeschränkt, weil er auf der Sanktionsliste des US-Justizministeriums stand, als Mitglied des so genannten Brother Circle. Wo konnte er noch hin? Nach Russland und in die Ukraine. Dort machte er weiter seine Geschäfte.
Weder Scheich Ahmads OCA noch die AIBA ließen ihn fallen.
Die AIBA teilte mir vor einem Jahr auf Anfrage mit, Rachimow habe zuletzt weder Weltmeisterschaften noch AIBA-Vorstandssitzungen besucht. Er gehe juristisch gegen die usbekische Regierung und gegen die Anschuldigungen des US-Justizministeriums vor. Laufende juristische Verfahren könne man nicht kommentieren.
Nun, ein Jahr später hat sich das Blatt ein wenig gewendet. Gulnara Karimowa hat größere Probleme. Die Schweizer Staatsanwaltschaft beschlagnahmte den auf Schweizer Konten gelagerten Teil ihres Vermögens von 800 Millionen Franken. Sie wird der Geldwäsche verdächtigt und soll daheim beim Papa in Ungnade gefallen sein. Wogegen Rachimow zwar immer noch auf der Sanktionsliste steht, doch die AIBA hat ihn auf ihrem Kongress auf Jeju Island (Südkorea) am 14. November als Vizepräsidenten bestätigt. Er ist der Verantwortliche für die World Series of Boxing (WSB), eine weltumspannende Wettkampfserie, die sich Rachimow genauso ausgedacht hat wie er daran beteiligt war, die AIBA für Profiboxer zu öffnen.
Warum? Nun, da lässt sich mehr verdienen und besser manipulieren. Eine solche globale Serie mit einem Franchise-System, in das man sich einkaufen kann, ist genau das, was diese Typen brauchen. Schnittstellen in der Grauzone. Vielfältige Optionen. Der Klassiker. In diesem Jahr machte Rachimow Schlagzeilen, als er dem amerikanischen TV-Sender ABC im Exil in Dubai ein Interview gab und auch darüber sprach, dass er bei der Olympiavergabe an Sotschi nachgeholfen habe. Angeblich mit Koffern voller Bargeld, heißt es. Doch Rachimow, den Craig Murray als einer der Top 5 Drogenhändler Mittelasiens bezeichnet, sagte: Nö, nur mit guten Beziehungen.
Vizepräsident für den Profibox-Bereich der AIBA ist übrigens Timur Kulibajew aus Kasachstan, der gerade in Almaty, der Olympiabewerberstadt 2022, die Weltmeisterschaft ausrichtet. Kulibajew ist Schwiegersohn das kasachischen Diktators und Putin-Verbündeten Nasarbajew, Aufsichtsratsmitglied von Gazprom, Boss von vier Staatsunternehmen in Kasachstan, in der Schweiz reden Ermittler und Politiker von mindestens 600 Millionen Dollar, die gewaschen worden sind. Was ich hier mit wenigen Worten zusammenfasse, sind, jede für sich, riesige Geschichten – schauen Sie sich nur mal diese zwei Seiten von Jean François Tanda in der Handelszeitung an. Ein globales Netzwerk vielfältiger Lebenssachverhalte, in denen die post-sowjetischen Sportliebhaber, Oligarchen, Politiker, Schwerkriminelle, sich ganz zentral tummeln.
Es gibt Dutzende dieser Kulibajews, Makarows, Rachimows, Lawrows, Marischkins, Patruschews, Kerimows, Jakunins, Schukows, Schestakows, Deripaskas, Lisins, Usmanows, Kosaks, Iljuschimows, Aminows, Balaschnikows, Abramowitschs, Rotenbergs, Mutkos, Smirnows, Mamiaschwilis, Tarpischtschews, Minnichanows, Prochorows, Bilalows, Potanins, Machmudows, Timtschenkos, Rusenkos, Alekperows, Millers oder Mordaschows – Oligarchen, Minister, IOC-Mitglieder, Verbandspräsidenten, viele mehrfach besrtzt. Es gibt die Lukaschenkos, Berdimuhamedows, Karimows, Alijews und andere Despoten – alle hoch angesehen im IOC-Umfeld, teilweise NOK-Präsidenten und Träger höchster olympischer Orden, allesamt Gastgeber für olympische Weltmeisterschaften und Mega-Events. Es gibt die Tamims, die Ahmads, die chinesischen KP-Kapitalisten und Partei-Olympier. Und es gibt die Vizers, Fasels, Wus, Blatters, Grandis, Moustafas, Ajáns oder Magliones, deren Weltverbandspräsidentschaft auf undurchsichtigen Netzwerken des weiten Ostens beruhen.
Eine solche Melange von Geld, Politik und Verbrechen hat es im Weltsport nie zuvor gegeben.
Eine der prägendsten Stunden als Journalist habe ich im Herbst 2010 im Meetingraum der Nowaja Gaseta verbracht. Gemeinsam mit Freunden unterhielt ich mich mit Waleri Morosow, Bau-Unternehmer und Whistleblower, der keine Lust mehr hatte, für Aufträge in Sotschi die üblichen Korruptionszölle zu zahlen, 20 bis 30 Prozent, der darüber öffentlich berichtete und ins Exil nach London gehen musste. „Die Öffentlichkeit schützt mich“, sagte Morosow, „sonst wäre ich schon ermordet worden.“ In der Ecke des Raumes, über Morosows Kopf hingen sechs Fotos: Gedenken an jene sechs Reporter der Nowaja Gaseta, darunter Anna Politowskaja, die wegen ihrer Recherchen ermordet worden. Dagegen leben deutsche Journalisten immer noch in einem Paradies.
In jenen Novembertagen in Moskau erzählten mir meine russischen Freunde, dass Fußballfunktionäre wie Wjatscheslaw Koloskow, Blatter-Vertrauter und langjähriges FIFA-Exekutivmitglied, Parties feiern, weil die WM-Vergabe entschieden sei: 2018 in Russland, 2022 in Katar.
Ich hätte den Jungs besser glauben sollen.
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Entschuldigung wegen der e-mail Adresse; nennen Sie mich allerdings reflexhaft einen Troll, sind Sie der erste, dem ich Reflexhaftigkeit vorwerfe, als billige aber zu billigende Retourkutsche. Ich habe Sie stets empfohlen und Ihre Arbeit offen gelobt. Ich habe lediglich eine andere Einschätzung bezüglich Ursache und Wirkung (oder besser: Telos) der momentanen internationalen Spannungen West vs. Ost. Ich glaube, ich kann für mich in Anspruch nehmen, dabei relativ leidenschaftslos zu sein, ich lasse mich auf Argumente gern ein. Sie, scheint’s, sind dessen müde: Sie haben ja bereits ein Weltbild (und keine Zeit, keine Ruhe). So lese ich diesen Text.
Ein Beispiel: „Es gibt Dutzende dieser Kulibajews, Makarows, Rachimows, […, …, …,]“
Eine erstaunliche Passage, und warum dieser, na ja, Stil? Das ist schon einigermaßen reißerisch und es liest sich entsprechend unangenehm („Berti, witsch sie weg!“, die Bild anläßlich eines Länderspiels gegen eine Mannschaft, in der es auch „Dutzende dieser“ Spieler gab, die auf ‚witsch‘ endeten), selbst, nein gerade dann, wenn ich mit Ihnen die gleichen Dinge kritisiere.
Ich habe bei dieser Leseprobe den Eindruck gewonnen, Sie haben sich zu einer Sprache hinreißen lassen, die den journalistischen Wert Ihrer Arbeit überschattet, weil man sich, bei nüchternem Lesen (beim Bemühen, Information aufnehmen), intuitiv dagegen wehrt, auf Affekte des Autors eingehen zu müssen. Es handelt sich ja nicht um ein Gedichtband oder um eine als solche deklarierte Propagandaschrift.
„Eine solche Melange von Geld, Politik und Verbrechen hat es im Weltsport nie zuvor gegeben.“ Wer glaubt das? Haben wir genügend Information darüber? Es sei also eine offensichtlich von Rußland bestellte Melange. Wäre ohne Rußland diese Melange vielleicht ein schöner Brauner ohne Schaum geworden, das Verbrechen wäre damit quasi raus, nicht mehr intrinsisch, und Geld und Politik würden schon zu einer feinen Latte Macchiato zueinanderfinden? Zugegeben, das Böse braucht ein Zuhause, irgendwo muß es ja wohnen.
Andererseits, wenn das Buch durchgehend so ist: ein gutes Geschenk für den Schwiegervater, der hört den ganzen Tag auf voller Lautstärke den Deutschlandfunk, und er liebt Spielarten solcher Passagen wie „Er kann einfach nicht aus seiner Haut. Er muss inszenieren.“ Laut, in Versalien gesprochen.
Aber es ist schließlich Ihr Blog und Buch, und ich muß auch hier nicht anstrengend herumkommentieren – daß ich es überhaupt auf der Basis einer Kommentarfunktion tue, ist schon fahrlässig genug, denn es ginge mir eigentlich um was, und das kann man eben so nicht und nicht haben.
genug jetzt.
g.j.
P.S.: Ich gehöre übrigens zu den ganz wenigen „Trolls“ (Sie über mich), die dann auch den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, und gut.
Sehen Sie, Philoktet, ich lasse auch diese Meinung stehen.
Reflexhaft reagieren Leute wie Sie, wann immer Russland und Putin thematisiert werden. Die Fakten sind auf meiner Seite. Und, ja, „wir haben“ genügend Informationen darüber, um das verlässlich einschätzen zu können, wenngleich leider nicht alle. Im Ebook MMM bringe ich, zum Beispiel im Olympic Power Index, einige Informationen zusammen, die diese Einschätzung untermauern.
Sie können, statt mit ideologischem Unsinn daher zu kommen, gern versuchen, mir Fehler nachzuweisen. Viel Erfolg. Das ist übrigens Teil meines journalistischen Ansatzes, mich korrigieren und belehren zu lassen. Aber eben nicht ideologisch, sondern mit Fakten.
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Nachdem ich zwischenzeitlich den Eindruck hatte, wir wären einem Anlagebetrüger aufgesessen, der sich mit den von uns eingesammelten Millionen schon lange in die Karibik zu seinem Kumpel Jack abgesetzt hat und uns nun aus der Ferne jahrelang vertröstet, war ich dann doch erleichtert, als die Mail mit dem Link kam (und das so kurz nach bzw. vor so wichtigen Entwicklungen in FIFA und IOC, wegen deren ich schon mit einer weiteren Verzögerung um mehrere Monate gerechnet hatte…).
Nun bin auch ich mit der unterhaltsamen und informativen Lektüre fertig. Der quantitative Ansatz ist sicherlich zukunftsweisend, aber auch stark ausbaufähig. Auf viele Schwachpunkte hat der Gastgeber selbst hingewiesen, oder sie zumindest angedeutet. Ein paar Verbesserungsvorschläge, die helfen könnten, das Olympische Konglomerat besser zu kontextualisieren, will ich aber doch noch anbringen.
1. Der olympische Sport ist ein wichtiger, aber doch kleiner Teil des Sportbusiness und der Sportpolitik, der an gewisse Grenzen stößt. Die Macht- und ökonomischen Zentren vieler olypischer Sportarten liegen weitgehend außerhalb des Einflussbereichs des IOC und der IFs: Die natinonalen Fußballigen, die Championsleague, NBA, NHL und 15er Rugby etc. Der OPI müsste/sollte auch diese Grenzen/Konkurrenzsituationen abbilden, also nicht nur die internen Machtverhältnisse, sondern auch deren Grenzen.
2. Einige der was Zuschauerinteresse und wirtschaftliche Bedeutung angeht wichtigsten Sportarten sind nicht olympisch und wollen es (mometan) nicht werden. Das Beispiel der NFL, das im Buch angesprochen wurde, ist doch recht eindrucksvoll. Dazu kämen nicht nur die MLB, sondern auch der Motorsport, semiglobale Sportarten wie Cricket (das Finale der Cricket WM 2011 hatte wohl mehr Fernsehzuschauer als das der Fußball WM 2014) oder Squash, die X Games und in der Zukunft auch immer mehr E-Sports. Mein Eindruck – und laut Buch auch der des IOC – ist, dass diese neuen Konkurrenten auf wichtigen Märkten dem olympischen Sport den Rang ablaufen und dass das IOC darauf reagiert. Müssten diese Konkurrenten nicht auch abgebildet werden?
Wenn diese beiden Faktoren mit eingerechnet würden, ergäben sich wahrscheinlich erhebliche Verschiebungen im (dann nicht mehr nur olympischen) Power Index. Die USA etwa würden sicher zulegen und deren Niedergang im OPI wäre stark relativiert.
3. Networking spielt im Text eine große Rolle, ist aber bestenfalls durch die Resultate (Events, Hosting, Position etc. ) abgebildet. Eine Netzwerkanalyse könnte die Player und Dienstleister hinter diesen Entscheidungen stärker betonen.
4. Es wäre praktisch gewesen, wenn die Links auch im .pdf funktioniert hätten.
@ miz
Vielen Dank.
1) Recht hast Du. Aber mehr geht nicht. Im IOC-Hoheitsgebiet fällt es schon schwer, die Übersicht zu behalten. Sollte mir der Emir von Katar demnächst mit einer Spende unter die Arme greifen, stelle ich gern ein hundertköpfiges Team unabhängiger Experten auf, das ein Modell entwirft und auch die Ligen etc einbezieht.
2) Ähnliche Antwort wie zu 1). Und ergänzend: Nein, die Konkurrenten müssen nicht abgebildet werden – können aber, wenn die Hundertschaft (siehe 1) erstmal mit der Arbeit beginnt). Ich nenne es „Olympic Power Index“, wenngleich fast 100 mehr Weltverbände enthalten sind, aber eben nur ansatzweise mit ihren wichtigsten Funktionären. So ein OPI kann ziemlich gut ohne Cricket, NBA, NFL etc auskommen. Zum IOC: Denen geht es weniger darum, jetzt mit jedem anderen Sportverband zu konkurrieren, sondern das eigene Produkt gezielter und sinnvoller zu ergänzen, als es bisher geschah. Das Kerngeschäft bleibt bestehen und wird gestärkt. Ich sehe keine wirkliche Konkurrenz zu den Olympischen Spielen, das sind auch die kontinentalen Spiele nicht.
3) Networking etc: „Eine Netzwerkanalyse könnte die Player und Dienstleister hinter diesen Entscheidungen stärker betonen.“ Meine Worte. Das will ich auch mal vorlegen. Es ist nicht damit getan, hunderte Player in ein Computerprogramm zu schmeißen. Gerade da beginnt Recherche. Das kostet Zeit und Geld.
4) „Es wäre praktisch gewesen, wenn die Links auch im .pdf funktioniert hätten.“ Die Links, jedenfalls die meisten, funktionieren im pdf. Nicht die blauen Links, das sind die internen, darauf hatte ich hingewiesen. Wohl aber die roten Links. Ich habe eben mal quer Beet so etwa 30 rote Links in der pdf-Datei angeklickt – nur einer hat nicht funktioniert. Bei einem zweiten Link war die Datei nicht mehr vorhanden – und das hat Gründe: Es handelte sich um den Abschiedsbrief von Don Mario als ANOC-Präsident, den insidethegames als pdf bereitgestellt hatte; da insidethegames aber nun Geld von EOC/Baku/ANOC kassiert, wurde diese pdf, die den Scheich und Hickey belastet, offenbar entfernt. Alle anderen Links funktionierten. Bei manchen anderen Links (Oslo 2022 und die IOC-Pflichtenhefte) ist mittlerweile das eingetreten, was ich im Büchlein bereits vermutet hatte: die Dokumente wurden ebenfalls entfernt.
@ miz: Eigentlich passen Deine Anmerkungen und meine Bemerkungen besser unter http://www.jensweinreich.de/2014/11/21/macht-moneten-marionetten-ein-wegweiser-durch-die-olympische-parallelgesellschaft/
Werde mal sehen, ob ich das kopieren und dort einsetzen kann.
Wobei ich gerade entdeckt habe, dass die Kommentarfunktion bei älteren Beiträgen ausgeschaltet war. Blöd. Ein Versehen. Jetzt geht es wieder.
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