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Das Olympische Bildungsmagazin

Attributsystem zur Sportförderung: Phantasie und Utopie zentraler Lenkungs- und Machtansprüche

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HAMBURG. Kleiner Nachtrag zum Text und den jüngsten Dokumenten zur Reform der Leistungssportförderung. Das sogenannte Attributsystem – exklusiv in diesem Theater.
Spannend und doch irgendwie enttäuschend:


Dazu habe ich für Spiegel Online eine erste Einschätzung gedichtet.

Vor einer Woche haben Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), im Sportausschuss des Bundestages die Eckpunkte für die Reform des Hochleistungssportsystems vorgestellt. Die Sportförderung aus Bundesmitteln soll konsequenter als bisher an talentierten Athleten und deren Zukunftschancen orientiert sein. Verbänden mit wenig Erfolgsaussichten müssen mit harten Einschnitten, Kürzung oder gar Ausfall von Zuwendungen aus dem für Spitzensport zuständigen Bundesinnenministerium rechnen. Die Weichen für die Reform werden in diesen Tagen und Wochen auf allen politischen und sportpolitischen Ebenen gestellt. Erstmals wurden die Fachverbände nun über das Herzstück der Reformbestrebungen informiert, über die neue Matrix der deutschen Medaillenträume: Jene 20 Kategorien und 60 Unterattribute, an denen künftig die Sportförderung pro Sportverband und in insgesamt 130 Disziplingruppen bemessen werden soll. Das sogenannte Attributsystem liegt SPIEGEL ONLINE vor.

An dem Berechnungsmodell, das sich Potenzialanalysesystem (Potas) nennt, wurde seit Anfang 2015 gebastelt. Die Grundlagen dafür hat der emeritierte Mainzer Sportinformatiker Professor Jürgen Perl geliefert. Eine Arbeitsgruppe, in der sich vor allem Vertreter von DOSB und BMI einen Kampf um die Deutungshoheit lieferten, legte Ende Juni die derzeit aktuelle Fassung vor. Die ersten Reaktionen aus den Fachverbänden fallen unterschiedlich aus. So erklärt Siegfried Kaidel, Präsident des Deutschen Ruderverbandes und Sprecher aller Spitzenverbände im DOSB: „Es werden am Ende vielleicht 25 oder sogar 30 Attribute sein, da ist nichts festgeschrieben. Die Verbände werden sich entscheidend einbringen“. Kaidel, der sich im Sommer noch einen internen Schlagabtausch mit DOSB-Präsident Alfons Hörmann geliefert hat, ist offenbar auf Linie gebracht und setzt nun auf die Konferenz mit dem DOSB am 18. Oktober in Frankfurt am Main. Kaidel glaubt, „dass die Arbeit jetzt erst richtig beginnt“. Dagegen erklärt Andreas Trautvetter, Präsident des Bob- und Schlittensportverbandes und ehemaliger Finanzminister Thüringens: „Ich weiß nicht, wie flexibel das jetzt noch angelegt ist. Im Grunde durchläuft das Thema doch nun die politischen Ebenen und ist längst raus aus der Befassung im Sport. Eine totale Überarbeitung wird es da nicht geben.“

Dirk Schimmelpfennig, der DOSB-Vorstand Leistungssport, hat den Verbänden am Mittwoch das Attributpapier geschickt, verbunden mit dem Hinweis, Ergänzungen und Veränderungen seien möglich. Das letzte Wort habe die noch zu gründende Potas-Kommission, eines von zwei neuen Gremien, die künftig den Leistungssport lenken sollen. Orientiert sich die Vergabe der Sportfördermittel bislang im Grunde an drei retrospektiven Kriterien (Medaillenzahl bei Olympia, Anzahl der Wettbewerbe, Anzahl der Sportler) und eher mäßig an Potenzialen, sollen nun 20 Kriterien einbezogen werden. Dazu zählen auch Trainingskonzeptionen, Wissen- und Wissenschaftsmanagement in den Verbänden, die duale Karriere, also die Verbindung von Sport und beruflicher Ausbildung, und einige Aspekte der Nachwuchsentwicklung. Andererseits fehlen wichtige Kriterien, über die seit Jahren die Welt debattiert, weil der organisierte Hochleistungssport auf vielen Ebenen in Verruf geraten ist: So ist der Kampf gegen Doping bislang kein Parameter des Potas-Systems. Themen moderne Unternehmensführung, Korruptionsbekämpfung und Transparenz in den Sportverbänden werden lediglich tangiert und mit dem geringsten aller Wertungsfaktoren bedacht.

„Das Problem ist, dass die Auswahl der Kriterien nicht empirisch begründet ist“, sagt Professor Eike Emrich, Lehrstuhlinhaber für Sportsoziologie und Sportökonomie an der Universität des Saarlandes. Der Wissenschaftler verfügt als langjähriger Leiter eines Olympiastützpunktes (Rheinland-Pfalz/Saarland), Hauptgeschäftsführer eines Landessportbundes und ehemaliger Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Leichtathletik-Verbandes über enorme praktische Expertise. Emrich sieht in dem Kriterienkatalog Erfolgskriterien überbetont. „Wobei die Frage der internationalen Chancengleichheit im Kontext von unterschiedlichen Anti-Doping-Regimes nicht ausreichend berücksichtigt wird.“ Den Aspekt der internationalen Chancengleichheit sieht auch Wintersportler Trautvetter vernachlässigt, aber weniger unter dem Aspekt der Dopingbekämpfung: „Da fehlt mir insgesamt die Struktur. Wir müssen auch evaluieren, wie es bei den Wettbewerbern aussieht, all das muss in so eine Bewertung einfließen.“

Am Attributsystem verwundert zudem, dass sich nur wenige Kategorien mit den Postulaten von DOSB und BMI decken, die Förderung solle sich mehr auf Sportler und deren Umfeld konzentrieren. Es überwiegen Kategorien, die eher der Verbandspolitik zugeordnet werden müssen. „Um wie in den Attributen beabsichtig die Qualität von Trainingssteuerung wirklich als Attribut nutzen zu können, müsste man zudem sagen können, mit welchen Trainingsinhalten man genau welche Wirkung bei welchem Athleten erzielt“, sagt Emrich. Kaidel beschwichtigt: Dies sei nicht zuvorderst Aufgabe des Potas-Systems, sondern werde in den anschließenden Strukturgesprächen mit den Verbänden detailliert besprochen.

Eike Emrich kritisiert die neue Matrix des deutschen Hochleistungssports grundsätzlich: „Alle zentralen Macht- und Lenkungsansprüche und Phantasien der letzten Jahre wurden in die Attribute gepackt und die werden mit einem objektiven und interessanten Verfahren verrechnet. Und am Ende haben tatsächlich jene Attribute mehr oder weniger Einfluss, die man in das Modell gesteckt und verrechnet hat, welches Wunder, andere hat man ja gar nicht reingesteckt.“ Letztlich bilde das Papier das ab, „was der DOSB schon immer wollte und für richtig und erfolgsträchtig hielt“. Er spricht von einer „Utopie einer sich als zentrale Lenkungsbehörde verstehenden Einrichtung“ und bezieht das BMI in sein Urteil ein. Schon vor Jahren hatte er die Beziehung von Sportorganisationen und der alimentierenden Sportbehörde BMI als feudales Verhältnis mit höfischen Regeln kritisiert: Wer gut bedacht werden wolle, müsse der gutachterlichen Behörde seine Aufwartung machen.

Emrich hat sich auf meine Bitte hin mit dem Papier auseinander gesetzt. So zum Beispiel:

Die Zuweisung von Prozentzahlen zu den einzelnen Attributen ist hinsichtlich der Transformationsregeln, also welche Ausprägung führt zu welchen Prozentwerten und welche Prozentwerte zu welcher Punktzahl sehr subjektiv gefärbt. Zudem wurden Fragen danach, ob eine bestimmte Struktur vorhanden ist und die man eigentlich nur mit ja oder nein beantworten kann (Beispiel: Liegt ein umfangreiches, leistungssportadäquates Good Governance-Konzept vor? und zwar in den Bereichen Transparenz/Kommunikation, Demokratische Prozesse, Finanzen, Solidarität erst in Prozentangaben bewertet und danach wieder in Punkte transformiert, nämlich: Erfüllung von 0 % = 0, Erfüllung von 25 % = 3, Erfüllung von 50 % = 5, Erfüllung von 75 % = 7, Erfüllung von 100 % = 10). Dies ist inkonsistent, ich kann mir aber gut vorstellen, wann ein Verband vom DOSB im Bereich Demokratische Prozesse eine Erfüllung von 100 % attestiert bekommt und danach 10 Punkte erhält. Wie man allerdings demokratische Prozesse misst, bleibt das Geheimnis des DOSB bzw. des Konzepts.

Im neuen Konzept würden „Verbände über den Faktor der zugewiesenen Geldmenge gezwungen, bestimmte Strukturen einzuführen, wenn Sie viel Fördergeld wollen“, sagt Emrich. Dies sei ein „durch Ressourcensteuerung erzwungener Eingriff in die internen Verbandsbelange ohne zu wissen, ob dadurch überhaupt die Erfolgswahrscheinlichkeiten steigt“. Deutlich wird hier die Handschrift des BMI, das zunächst in Medien und im vergangenen Jahr auch vom Bundesrechnungshof wegen eklatanter Mängel eines intransparenten Fördersystems unter Druck geriet. Nun hat das BMI die Daumenschrauben angezogen.

Siegfried Kaidel, Sprecher der Spitzenverbände, sieht das dennoch entspannt. „Man will in keinem Fall die Autonomie der Verbände beschränken“, sagt er. „Wenn es so wäre, hätte ich schon einen lauten Schrei losgelassen.“

6 Gedanken zu „Attributsystem zur Sportförderung: Phantasie und Utopie zentraler Lenkungs- und Machtansprüche“

  1. Ganz interessant: Bis zu 20% der Bundesstützpunkte sollen im Rahmen der Spitzensportreform reduziert werden. Am Beispiel des Sports in NRW zeigt sich jedoch Beharrungsvermögen und Ignoranz: Für die neu zu besetzende Landestrainerstelle Skeleton am Bundesstützpunkt wird „Arbeitsort ist Winterberg!“ garantiert.

    http://www.dosb.de/uploads/media/Ausschreibung_Trainer_Skeleton_2.pdf

    Sicher kein Einzelfall: Es werden Fakten geschaffen trotz der vorliegenden Vorschläge zur Spitzensportreform. Ein Landesverband ignoriert den Dachverband DOSB. Der DOSB weiß nicht, was seine Mitgliedsorganisationen machen. Und der Staat soll diesen Unfug mit Steuergeld finanzieren.

    Diese Spitzensportreform wird richtig, richtig teuer.

  2. Die Gründung des DOSB war ein Fehler. Ein Deutscher Sportbund wäre besser, unabhängiger ,strukturell besser und finanziell gesünder.
    Ich kann nicht mit dem DOSB identifizieren.

  3. @ Ben: Es ist kompliziert :) Ich habe damals die Idee eins unabhängigen NOK verteidigt. Es war aber leider nur eine Idee, das NOK hatte weder personell noch institutionell jenes Niveau, das es hätte haben können/müssen.

  4. Mich wundert, dass in Krise des deutschen Leistungssports niemamd über das Beispiel Großbritanniens redet. 1996 fand sich das Land in einer ähnlichen Krise und führte tiefgreifende Reformen ein.Es belegte in den diesjährigen Spielen Platz zwei im Medaillenspiegel.

  5. @JW

    Spitzensportler die früh ihre Laufbahn beenden wie Markus Deibler beweisen, das dieses Fördersystem faul ist. Wieviele haben nach dieser Olympiade aufgehört?Antreten gegen „zwielichtige“ Athleten?
    Dabeisein ist alles- jetzt stimmt der Spruch.
    Die Kosten einer Olympiade, die Bedingungen im Umfeld, die Korruption- das ekelt auch Zuschauer an.
    ´@Jörg Jansen
    Hier kleben viele Funktionäre an ihren Sesseln. Reformen muss man wollen oder erzwingen können.

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