URAYASU/TOKYO. In wenigen Stunden beginnen die Corona Games, doch ich habe bereits die Übersicht verloren. Wie um Himmels soll ich Sie vernünftig durch diese Olympischen Sommerspiele lotsen und Ihnen täglich vernünftige Ansätze und damit minimalen Mehrwert liefern? Welche Flasche schreibt da einen Tokio Newsletter?
Die Geschichte heute klingt leicht depressiv, hat allerdings einen informativen Charakter, letzteres will ich Ihnen nahe bringen.
Passt nicht zusammen, sagen Sie? Mal schauen.
Regel Nummer eins bei Olympia (nicht nur für Berichterstatter) lautet: Du kannst nicht alles machen.
Sollte einleuchten, bei 33 Sportarten, die sich in 46 Disziplingruppen aufteilen, und mehr als 300 Entscheidungen. Aber darum geht es mir ohnehin nicht mehr. Niemand zwingt mich, Wettkämpfe zu verfolgen. Bei vorherigen Sommerspielen, als ich gern das komplette Programm in den beiden Kernsportarten Schwimmen und Leichtathletik abgedeckt habe, waren das – ganz grob – rund ein Drittel aller Entscheidungen, die ich live erlebt habe. Als würde das nicht reichen, als wäre das nicht genug an Tränen und Ekstase, Illusionen, Schwindel und Rekorden (habe ich hier kürzlich aufgeschrieben: Wenn die Kraft nicht mehr zum Weinen reicht: über Zahnspangen, Ruinen, Drogen und Caipirinha in Eimern), war ich oft unzufrieden und wollte mehr sehen und erfahren. Ich hatte meine olympischen Steckenpferde, darunter Betrüger aller Art, bizarre Sportarten und Verbände. Gewichtheben und Boxen gehörten stets dazu, also jene Föderationen (IWF, AIBA), die um ihren olympischen Status kämpfen.
Doch ich will nicht abschweifen.
Denn Regel Nummer zwei bei Olympia lautet: Selbst wenn du keinen Wettbewerb besuchst, selbst wenn du dich auf andere Dinge und Themen konzentrierst, kannst du nicht die Übersicht behalten. Unmöglich.
Man muss das anerkennen. Sonst ist man verloren.
Wenn das Raumschiff Olympia gelandet ist und die Bildproduktion angelaufen, wenn die Propagandamaschine des IOC hochtourig brummt, wenn sich also der gigantische olympische Krake unentwegt räkelt und seine Tentakel dich umschlingen, gibt es zwei Optionen:
Sich mitreißen lassen. Oder versuchen, sich beim Sichmitreißenlassen zu beobachten.
Also: immer schön auf den Kompass gucken. Denn wer nicht aufpasst, ertappt sich nach zwei Wochen vielleicht dabei, noch nicht einen vernünftigen Gedanken gefasst und nicht einen Moment analytischer Erleuchtung erlebt zu haben.
Das kann doch niemand ernsthaft wollen. Was wäre das für ein Journalismus? Es wäre ein Jammer.
So banal ist das.
Olympische Spiele werden aus tausend guten Gründen Mega-Events genannt. Natürlich definiert sich dieser Begriff vor allem durch die Kosten (in der Regel eine hohe zweistellige Milliardensumme), die Internationalität (hier: weltumspannend) sowie einen gigantischen logistischen Aufwand, eine planerische Meisterleistung. Dieser Begriff impliziert auch, dass es dem Einzelnen – vor Ort oder nicht – unmöglich ist, auch nur ansatzweise Übersicht zu behalten. Und ich rede da nicht von Statistiken.
Dieser Moment der Verzweiflung (Was mache ich hier? Das wird doch nüscht! Was soll nur werden? Das wird eine Blamage! Die Kunden werden sich enttäuscht abwenden!) kommt früher oder später. Ganz gewiss. Es gibt kein Entrinnen. Ob man zum ersten Mal auf dem Raumschiff ist oder zum dreizehnten Mal, so wie ich, ist völlig egal. Man kann es nicht verhindern.
Dann machen dich Banalitäten irre. Dann sitzt oder stehst du in Bussen (vollbesetzt übrigens, mit keinerlei Abstandsregeln, es ist verwirrend merkwürdig) und verlierst für einfachste Wege (A -> B -> A) mehrere Stunden, dann irrst du wie in Trance durch das gewaltige Main Media Center und versuchst, dich irgendwie zu orientieren, dann wunderst du dich über andere erstaunlich laxe Coronaregeln, fluchst über das steinzeitlich langsame Internet und sehnst dich nach 5G und zu deinen Katzen ins heimatliche Arbeitszimmer, ganz weit weg vom olympischen Irrsinn.
Sollte mir jemand erzählen wollen, er habe diese Momente nie erlebt, würde ich das nicht glauben. Dieser Job bei Olympia ist kein Heldenepos.
Mich könnten Sie, zum Beispiel, aus dem Tiefschlag wecken und meinen Schalter anstellen – ich würde Ihnen einen mehrstündigen Vortrag über das IOC, über Ganoven und Betrüger, über die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe der Olympiabranche halten. Kein Problem. Sie würden sehr bald den Aus-Schalter suchen.
Es kann aber auch sein, dass Sie die (von mir in diesem Moment erfundene) Meldung vernehmen, Thomas Bach sei positiv auf HGH getestet wurden – und nun dazu eine fachmännische Einordnung von mir erwarten. Doch ich stehe gerade in irgendeinem Gefährt, eingekeilt von lärmenden Spaniern, die unentwegt Sprachnachrichten in ihre Smartphones brüllen, und vollbärtigen Montenegrinern, die ebenso lautstark die Chancen ihres Olympiateams durchdeklinieren.
Sie dürfen dann nichts erwarten.
Zwischen diesen Polen changiert Olympia-Berichterstattung.
Das musste ich Ihnen heute unbedingt erzählen, auch nachdem ich einige Gespräche mit Kollegen und Freunden dazu hatte. Ich werde die Namen nicht nennen, nicht dass die sonst Ärger mit ihren Arbeitgebern bekommen, einige der besten Medienhäuser des Planeten sind darunter, berühmt für investigativen Journalismus.
Was machen wir nur? Wir müssen reden! Sonst sind wir verloren!
So ging das.
Reden wir also. Unbedingt. Gleich morgen. Schärfen wir unsere olympischen Sinne.
Das gilt für mich und meine Kollegen und Freunde – und für Sie.
Morgen (für Sie, bei mir ist ja schon Freitag und damit der Eröffnungstag der Spiele der XXXII. Olympiade) werde ich mir die Foltern der Eröffnungszeremonie antun. Das muss sein. Olympia heißt auch: leiden können und Schmerzen besiegen.
Während der Eröffnungsfeier, auf der die olympische Flamme der Welt den Anfang vom Ende der Pandemie erleuchtet und ein goldenes Zeitalter eröffnet, sollte genug Zeit bleiben, um über einige grundsätzliche Fragen zu sprechen: Rule 50 und solche Dinge – was dürfen Sportler, was ist ihnen verboten, warum sollen sie sich nicht wie normale Menschen zu Menschenrechtsfragen äußern dürfen. Es wird um Symbole gehen, nicht nur um jene, die IOC und TOCOG im Sinne haben.
Ich würde mich freuen, wenn Sie auf meiner Webseite dabei wären. Ich mag keine Einbahnstraßen-Kommunikation.
Was halten Sie davon, mir zu schreiben, welche Fragen und Themen ich behandeln soll in den nächsten Wochen?
Nur zu. Das hätte den Vorteil, dass wir weniger aneinander vorbei reden. Ich werde meine Liste abarbeiten, es ist mir aber tausendmal lieber, direkt auf Sie zu reagieren.
Was übrigens auch typisch ist, und das ist noch so eine wunderbare Konstante bei den Spielen: Jeder Olympia-Blues findet noch immer ein jähes Ende.
Und jetzt bin ich gespannt, wie viele Abonnenten dieser Newsletter verliert. Und wie viele Olympiapässe nicht gebucht werden.
Ich berichte bis 10. August 24/7 von den Corona Games aus Tokio. Im Shop oder direkt via PayPal können Sie olympische Hintergrundberichterstattung buchen und meine Arbeit unter erschwerten Bedingungen unterstützen – analog zu Rio und PyeongChang gibt/gab es den Tokio-Pass, aber mit viel mehr Content und einigen Extras wie einen täglichen Newsletter. Für absolute Gourmets und Supporter gibt es sogar ein IOC-konformes Tokio-Superpaket „Es werde Licht am Ende des Tunnels“!
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