Henrich Misersky ist in seiner Thüringer Heimat an einem Krebsleiden verstorben. Der ehemalige Leichtathlet und Trainer war drei Jahrzehnte lang eine der wichtigsten Stimmen in der Debatte über die Aufarbeitung des DDR-Sports und seiner kriminellen Begleiterscheinungen. Er hat sich geweigert, seine Sportlerinnen und seine Kinder zu dopen.
RIP, Henner. Mein Beileid gilt Ilse Misersky, Antje und Heike und den anderen Angehörigen.
Ich kannte Henner Misersky seit Februar 1992, als seine Tochter Antje in Albertville Olympiasieger im Biathlon wurde und Henner unmittelbar darauf live in der ARD den deutschen Sportfunktionären den Spiegel vorhielt, was damals eine Sensation war, und sie daran erinnerte, dass für Medaillen alles getan wurde und also auch zahlreiche Trainer, Betreuer und Funktionäre übernommen worden waren, die eine Doping- und Stasi-Vergangenheit hatten …
… ein Kollege hatte Misersky daraufhin in einem ganz schändlichen Zeitungskommentar attackiert. Ohne im Archiv zu wühlen, ist mir dies in Erinnerung geblieben:
„Hättest Du nur geschwiegen, Henner!“
Natürlich nicht. Misersky hat nicht geschwiegen. Bis zuletzt nicht. Und genau das ist der Kern der Sache und gewissermaßen sein Lebensthema.
Sogenannte mahnende Stimmen, die Unbequemen, die Streitbaren, die Kritiker, wie es in Medien dann immer heißt (die Formulierungen sind meistens unpräzise, dumm und feige), die sind es, die Themen vorantreiben. Die eben auch dafür sorgen, dass Vergangenheit debattiert wird, obwohl die Täter und die Verantwortlichen des sportpolitischen Komplexes kein Interesse daran haben, diese unschönen Fakten öffentlich zu verhandeln.
Ich schrieb zwar gerade „sportpolitischer Komplex“, doch das gilt selbstverständlich für alle Bereiche. An der gerade wieder extrem ärgerlichen Debatte über die DDR, ausgelöst von merkwürdigen Büchern, wird das ständig belegt.
Aber zurück zu Henner Misersky. Ich hatte ihn damals am Telefon und habe mich für den schmutzigen Kommentar eines DDR-Gestrigen entschuldigt, obwohl ich dafür keine Verantwortung trug. Wann ich ihn und Antje das erste Mal traf und darüber redete, weiß ich nicht mehr, es könnte 1994 in Lillehammer gewesen sein. Es war nicht leicht seither, für niemanden. In meinem Beitrag „Das Gift des Dopings. Blackbox Ines Geipel.“ habe ich im März dieses Jahres u.a. geschrieben:
Diese gesamte große traurig-irre Geschichte von verfeindeten ehemaligen Mitstreitern, von Lug und Betrug, von Wunden und Verletzungen, von Dichtung und Wahrheit, von Eitelkeiten, Rechthabereien, Neid und Missgunst, Hass und Häme, Verklärung und Hybris, von Vergessen und Mahnen, von Instrumentalisieren und Aufklären … ist ein Beleg mehr dafür, wie das Gift des Dopings wirkt – und zwar auf allen Seiten.
Tief. Brutal. Lang anhaltend. Über Generationen.
Das Gift des Dopings kommt in verschiedenen Aggregatzuständen daher. Es wirkt gewaltig, brutal, es hat eine lange Halbwertszeit. Es wirkt über mehrere Generationen. Es wirkt auch ideologisch. Es zersetzt.
Und dieses Gift schädigt letztlich sogar jene, die sich Aufklärung verschrieben haben. Es schädigt jene, die sich als Trainer in einem totalitären Staat dem Dopingsystem verweigert haben, so wie es Henner Misersky tat.
Ich hoffe, Du findest Deinen Frieden, lieber Henner.
Habe gerade im Postfach gewühlt. In der letzten Email, die von Henner Misersky aufpoppte, fand sich diese Passage:
„Ich bin ziemlich hilflos und überfordert. Dieser Lückenjournalismus und die mangelhaften defizitären sporthistorischen Kenntnisse machen uns schwer zu schaffen …“
Auch das.
Dabei möchte ich es für heute belassen. Was hier am Beispiel des Lebens und Wirkens von Henner Misersky skizziert wird, zählt zu den Kernthemen in diesem Theater. Besonders in den Jahren 2009 ff. gab es hier zahlreiche Beiträge zum Doping und zur Aufarbeitung des DDR-Sports, die oft viele hundert Kommentare hatten – jeder einzelne. Es waren harte, wichtige, ermüdende, befruchtende, ärgerliche, blöde und ganz wunderbare Debatten. Wie im richtigen Leben.
Herbert Fischer-Solms, Werner Franke, Gerhard Treutlein, Robert Hartmann, Henner Misersky – auch Andrew Jennings – sie alle haben mit ihrer Arbeit, ihrer Ausdauer und ihren Erfahrungen die großen öffentlichen Debatten über die Auswüchse des Spitzensportsystems befruchtet, mitbestimmt und immer wieder forciert.
Ja, die sogenannten mahnenden Stimmen, die Unbequemen, die Streitbaren, die Kritiker.
Was wären wir ohne sie? Wie viel weniger wüssten wir? Was hätten wir verpasst? Wie oft hätten wir es versäumt, zu kämpfen und uns zu begeistern?
Das bleibt.
Sie alle sind seit 2022 gegangen. Tränen.
Diesmal gilt mein herzlicher Dank Henner Misersky.
Natürlich hat auch Henner Misersky (wie Antje Harvey, seine Tochter) verdient die Heidi-Krieger-Medaille erhalten, die ja ihre eigene traurige Geschichte hat, in mehrfacher Hinsicht. Aus dem hier vorhandenen Fundus verschiedener Autoren ergänzend einige Lesebefehle zur großen Thematik. Mit dem Geipel-Text vom März hatte ich meine Kraft und Bereitschaft, an diesem verzehrenden Thema zu arbeiten, vorerst aufgebraucht. Dabei wird es nicht bleiben. Gewiss gibt es dutzende andere Beiträge, die wichtig waren, an denen hier viele gemeinsam gearbeitet haben, im Disput, denn die Diskussionen waren wichtig.
– Das Gift des Dopings. Blackbox Ines Geipel.
– Was vom Tage übrig bleibt (104): die Usancen im Verein Doping-Opfer-Hilfe
– Johanna Sperling: „Bitte weist es zurück, seid stolz darauf!“ (Ein kleiner Text, aber für mich einer der wichtigsten Texte und eine der wichtigsten Begegnungen meines journalistischen Lebens überhaupt.)
– Grit Hartmann: Der Stellvertreter: Gustav-Adolf Schur und die Hall of Fame des deutschen Sports (Ein grundsätzlicher, ganz hervorragender Text über diese Art von Debatten.)
Das Schlusswort sollen sie haben: Antje und Henner Misersky: „Erst die Medaillen, dann die Moral!“.
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Dieser Nachruf verdeutlicht einmal mehr die lebenslange Schlacht gegen die Schatten einer verhüllten Vergangenheit, wo die Linien zwischen Tätern und Opfern oft verschwimmen. Der Verstorbene verkörperte den Mut, sich gegen ein System der Täuschung und Manipulation aufzulehnen, ein System, das im Streben nach Ruhm und Anerkennung die Gesundheit und Werte seiner Sportler opferte. Seine unerschütterliche Haltung gegen Doping und seine unablässige Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit haben Licht in die dunkelsten Ecken des Leistungssports gebracht. Sein Erbe lehrt uns, die Stimme zu erheben, auch wenn die Wahrheit unangenehm ist, und das Verlangen nach Transparenz und Integrität aufrechtzuerhalten. Die emotionalen und physischen Narben, die das Gift des Dopings hinterlässt, hallen in den Generationen nach, und erinnern uns an die unaufhörliche Bedeutung von Ethik und Moral im Sport.