Das Leben, dieses ewig rätselhafte, treibt schon absonderliche Blüten. Und zwar täglich, was es keinesfalls leichter macht, es zu begreifen, dieses Leben. Es ist deshalb ratsam, nicht nur Verständnis zu heucheln für jenen ARD-Fernsehreporter, der am Mittwoch bei der Tour de France ein Interview führen musste. Nein, man sollte sich wirklich Mühe geben, den armen Tropf zu verstehen. Tapfer hielt also unser Mann vor Ort, Vertreter des gebührenfinanzierten Fernsehens, einem Profiradler des T-Mobile-Teams sein Mikrofon entgegen und hob zu einer geradezu entrüsteten Frage an: „Es gab Maßnahmen gegen Doping. Trotzdem gab es jetzt einen Dopingfall. Haben Sie eine Erklärung dafür?“
Bitte nicht voreilig spotten, denn diese Frage war wunderbar. Nicht wirklich ahnungslos, sondern hochgradig philosophisch. Dem Fragesteller ist ein sportethischer und sportjournalistischer Dreisatz erster Güte gelungen: Es gab Maßnahmen – trotzdem wurde T-Mobile-Fahrer Patrik Sinkewitz als Doper überführt. Weitere Fragen ließen sich anfügen: Warum gibt es eigentlich Maßnahmen? War Doping vor den Maßnahmen da oder vielleicht doch eher die Maßnahmen vor dem Betrug? Oder, um mit den Worten des Mikrofonträgers bei der Tour zu sprechen: Kann eigentlich sein, was nicht sein darf?
Egal. Mit Sinkewitz ist der Nächste aus dem Rennstall vermeintlicher deutscher Helden enttarnt. Wie hängt das wohl zusammen? Offenbar haben am Mittwochmorgen, unmittelbar nach Bekanntwerden der positiven Dopingprobe von Sinkewitz, auch zwei deutsche Medienmanager über diese Frage sinniert. Zumindest darf das unterstellt werden. Denn kurz darauf verkündeten ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender und ARD-Programmdirektor Günter Struve den Ausstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aus der aktuellen Tour-Berichterstattung.
Dies ist ein erstaunlicher Schritt, denn beide hatten sich in den vergangenen Wochen doch in einer bizarren Mischung aus vehementer Arroganz und beißender Ahnungslosigkeit dagegen gewehrt. Ende Mai erklärte Struve im Sportausschuss des Bundestages, der Ausstieg von der Tour de France sei „ein völlig falsches Zeichen“. Brender argumentierte ähnlich. Man setze auf die Selbstreinigungskraft der Branche, hieß es. Die Frage aber, ob sich in der Menschheitsgeschichte jemals ein hochgradig kriminelles Netzwerk selbst gereinigt habe, hatte leider keiner der Abgeordneten parat.
Einerseits ist der Ausstieg aus der aktuellen, der sogenannten reinen Sportberichterstattung, vernünftig und nachvollziehbar. Es war ein Fehler, überhaupt mit großem finanziellen Aufwand diese Tour anzugehen. Denn an der Sachlage hat sich doch in den vergangenen Tagen nichts geändert: Im Radsport wird weiter gelogen, und betrogen. Die Tour und die Drogen, der Radsport und die organisierte Kriminalität – nichts anders können die Themen einer Berichterstattung lauten. Wer in Gelb fährt, ist unerheblich.
Andererseits ist dieser Entschluss von ARD und ZDF ganz und gar nicht souverän. Denn Brender und Struve haben ja vorerst nur erklärt, „bis zur Klärung des Falles“ aus der Tour auszusteigen. Es wäre interessant zu erfahren, was die öffentlich-rechtlichen Vordenker darunter verstehen: Ist der Fall geklärt, wenn die B-Probe – Urin, den Sinkewitz ebenfalls im Pyrenäen-Trainingslager abgeben musste – den exorbitant hohen Testosteron-Wert der A-Probe bestätigt? Davon ist auszugehen. Oder ist der Fall geklärt, wenn die B-Probe, was äußerst selten passiert, überraschender Weise ein anderes Resultat ergeben sollte?
Würden Struve und Brender ihre Hundertschaft dann wieder an die Rennstrecken kommandieren um beispielsweise Andreas Klöden, dem möglichen deutschen Tour-Sieger 2007, zu huldigen? Oder sind Struve und Brender vielleicht doch in der Lage, weiter zu denken als bis zur nächsten Quotenmeldung? Beweisen sie vielleicht gar über die Tagesereignisse hinaus journalistisches Profil?
Man will aber nicht allzu ungerecht sein. Immerhin, im Vergleich zu früheren Jahren, als die ARD auf den Trikots des Telekom-Teams warb, als Jan Ullrich und andere Betrüger insgesamt hunderttausende Euros kassierten, um lausige Interviewfetzen abzuliefern, als der ARD-Sportkoordinator erklärte, wenn Team Telekom sage, es gäbe kein Doping, dann gäbe es auch für die ARD kein Doping, im Vergleich zu diesen Zeiten ist der Doppelbeschluss vom Mittwoch revolutionär.
Man sollte nur aufpassen, dass sich die Revolutionäre nicht aus ihrer Mitverantwortung für das mafiöse System stehlen.
© Berliner Zeitung
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